Claus Fussek / Gottlob Schober: Im Netz der Pflegemafia.
Wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden.
Verlag C Bertelsmann, München.
Zu diesem Buch kann man Claus Fussek und Gottlob Schober nur gratulieren. Nachdem ich jahrzehntelang Patienten in fast allen Altenheimen in München behandelt habe – einen beträchtlichen Teil in den jeweiligen Pflegestationen –, kann ich die in diesem Buch beschriebenen Erfahrungen nur voll bestätigen.
Im ersten Teil des Buches werden unter der Überschrift „Dauerbrenner Pflegenotstand“ Einzelfälle geschildert, objektiv geschildert, das heißt es werden gute Betreuungen ebenso benannt wie schlechte Betreuungen. Es wird zwischen Heimunterbringung und autonomem Leben unterschieden. An erster Stelle ist die Qualität der Betreuung natürlich von der Leitung des jeweiligen Hauses abhängig. Aber bei allen Problemen steht der „Pflegenotstand“ an erster Stelle. Eine vernünftige Pflege kann nicht nach Minuten berechnet werden! Auf eine solche Idee kann nur jemand kommen, der nie selbst gepflegt hat – dies sollte aber Voraussetzung für die Mitsprache bei der Entwicklung einer Pflegeversicherung sein. In der Pflegebranche werden in Deutschland jährlich 25 Milliarden Euro umgesetzt. Das geltende Berechnungssystem ist jedoch kaum durchschaubar und wird daher zum Teil skrupellos ausgenützt – ausgenützt auf Kosten der pflegebedürftigen Menschen.In den Industrienationen haben wir heute 25 - 30 % alte Menschen, Tendenz steigend. Der Pflegenotstand verlangt neue Antworten, die auch von Fussek /Schober angeschnitten werden. Neben den notwendigen Fachkräften brauchen wir meiner Meinung nach das allgemeine soziale Jahr für junge Männer und Frauen – hieraus wird sich auch der Nachwuchs für die Fachkräfte rekrutieren. Ein anderes Beispiel wäre etwa das Projekt „Daheim in unserm Viertel“ des CBF München und Germering: Hier engagieren sich freiwillige Helfer für Alltagswünsche alter und behinderter Menschen; diese kosten € 7.50 pro Stunde, wovon sie € 6.15 ausbezahlt bekommen – oder auch für Hilfe im eigenen Alter ansparen können. Ein weiterer Vorschlag: Neue Wohnformen, die weniger Pflegepersonal erfordern. Der Verbleib in der eigenen Wohnung führt bei alten und nicht mehr mobilen Menschen zur Vereinsamung; sinnvoll wären Wohngemeinschaften mit sechs 1½-Zimmer-Wohnungen, plus Nebenräumen und einem großen Gemeinschaftsraum. Hier könnten vor allem Alzheimer-Patienten aktiviert werden.
Ein ganzes Kapitel widmen Fussek/Schober der Frage: „Wie vermeide ich Stürze?“
Bei Haftungsklagen werden von der Justiz ganz unterschiedliche Urteile zu dieser Frage gefällt. Wieder urteilen Menschen – diesmal Juristen –, die keine Erfahrung mit den Verhältnissen in Pflegeheimen mit dementen Patienten haben. Angesichts der Zunahme der Überalterung der Bevölkerung wäre ein mehrwöchiger Einsatz auf einer Pflegestation während der juristischen Ausbildung eine Notwendigkeit. Die Autoren berichten über eine große Zahl von guten, aber auch von negativen Beispielen wie Fixierungen oder die Verabreichung von hohen Dosen von Psychopharmaka. Erschwert werden alle Entscheidungen dadurch, dass oft prophylaktische Maßnahmen von den Kassen nicht gezahlt werden, die Folgekosten einer Fraktur oder eines Dekubitus aber wohl.
Im letzten Kapitel ihres Buches zeigen die Autoren schließlich Auswege aus der Pflegemisere. Hierzu gehört die notwendige Verschärfung der bisher mangelhaften Kontrollen der Heime durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK), die bis jetzt vorher angesagt werden, nie nachts erfolgen und deren Ergebnisse nicht veröffentlicht werden. Ebenso hilfreich wäre die positive Beendigung des bereits jahrelangen Kampfes um den Heimarzt. Es ist bewiesen, dass durch einen qualifizierten Arzt im Pflegeheim weniger stationäre Einweisungen erfolgen, die Aufenthaltszeiten in den Kliniken sind deutlich kürzer; Medikamente verstorbener Patienten werden weiter verwendet.
Hier gibt es bereits das sogenannte „Berliner Projekt“: Eine Hausärztin/ein Hausarzt hat zugleich Bereitschaftsdienst in einem Pflegeheim und dort auch ein Arztzimmer zur Verfügung. In Berlin arbeiten bereits 38 Pflegeheime nach diesem Prinzip. Unter Aufsicht dieses Bereitschaftsdienstes, aber auch durch anderweitige Kontrolle und strikte Auflagen, könnten Druckgeschwüre (Dekubitus) verhindert und Inkontinenzwindeln, die 24 Stunden Urin aufnehmen, verboten sowie Sondennahrungen durch Eingeben des Essens ersetzt werden. Wenn alle hier gegebenen Anregungen und Vorschläge verwirklicht würden, könnten die Autoren vielleicht in einigen Jahren ein Buch mit dem Titel „Optimale Pflege der alten Menschen“ schreiben.
Ruth Kern