Geschichten aus dem Leben von Richard J. Schaefer, seit 15 Jahren u.a. kompletter Tetraplegiker
Mein Name ist Richard Schaefer. Ich bin 58 Jahre alt und wohne in Linz. Seit einem Unfall 2005 bin ich Rollstuhlfahrer. 2012 habe ich den Verein „Netzwerk Quer-Schnitt“ gegründet. Hier berate ich nicht nur querschnittsgelähmte Menschen, sondern auch ihre Angehörigen.
Die meisten denken wenn sie das Wort BARRIEREFREI hören jetzt sicher an bauliche Barrieren. In diesem Beitrag möchte ich aber über Barrieren erzählen, die von vielen nicht gesehen werden, mein Leben aber extrem erschweren.
Auch wenn mich die 35 Monate in meiner Erst-Reha nach dem Unfall gut auf mein verändertes Leben vorbereitet haben, musste ich anfangs trotzdem durch eine sehr harte Schule gehen. Dass nichts mehr so sein würde wie es war, war mir natürlich klar. Doch das alltägliche Leben hielt Barrieren für mich bereit, über die mich niemand aufgeklärt hatte. Als ich dann zum ersten Mal nach meinem Unfall allein in meiner Wohnung lebte, wurde mir dann umso mehr bewusst: Barrierefrei ist nicht gleich barrierefrei.
Das fängt schon bei der Körperhygiene an. In der Früh kam für das Allernötigste, wie beispielsweise zur Unterstützung bei der Körperpflege und dem An- und Umkleiden, ein mobiler Pflegedienst für gerade einmal 45 Minuten vorbei. Mehr bekam ich laut Pflegeeinstufung nicht zugestanden. Nun geschah es eines Tages, dass mich ein Magen-Darm-Virus plagte. In der Pflegdienstzentrale erfuhr ich, dass eine Pflegekraft erst am späten Nachmittag zur Verfügung steht. Die nette Dame am Telefon riet mir, ich solle mich den Tag über möglichst wenig bewegen. Abgesehen von den medizinischen Folgen (Stichwort Ausschlag, Hautreaktionen auf den teils aggressiven Stuhlgang), können Sie sich bestimmt vorstellen, wie ich mich in den Stunden des Wartens gefühlt habe. Ich fand mich in diesem Moment nicht nur in einer Situation, sondern machte mir auch echt Sorgen. Ich hatte die ersten rund zehn Jahre nach meiner Erst-Reha auch immer größere Probleme mit meiner übersensiblen Haut im Becken und Gesäßbereich. Ich hatte in den ersten 8 Jahren immer wieder über längere Phasen mit dem einen oder anderen Dekubitus im Becken- bzw. Gesäßbereich zu tun!
Heute habe ich eine 24-Stunden-Assistenz, die mir in allen Belangen des Lebens hilft. Wenn wir verreisen, zahle ich im Durchschnitt für mein rollstuhlgerechtes Zimmer circa 30 - 40% mehr als meine Assistenz für ein ähnliches bzw. gleiches Zimmer. Es reicht bei Hotelanfragen zu fragen ob das Zimmer barrierefrei oder rollstuhlgerecht ist! Kleiner Tipp am Rande für die Hotel-Wahl: Eine italienische Dusche (flach und stufenlos) alleine reicht nicht aus, um ein Zimmer barrierefrei zu machen. Viele Hotels sind der Meinung dass es reicht wenn die Türbreite mindestens 80 cm beträgt und eine stufenlose Duschmöglichkeit vorhanden ist. Im Salzburger Land warb ein Hotel mit einem (barrierefreien) rollstuhlgerechten Zimmer. Türbreite und Dusche (abgesehen einer fehlenden Umsetzmöglichkeit) passten. ABER … ich kam auf keiner der beiden Doppelbettseiten mit meinem Rollstuhl zwischen Bett und Zimmermauer. Auf meine Reklamation hieß es nur; die Dusche ist doch stufenlos. Zum Glück konnte ich das Zimmer (halt ohne optimale Dusche) meiner Assistenzperson dann nutzen. Apropos Hotels: Ich weiß nicht wie es Ihnen dabei so ergeht!? In 80% Prozent der Hotelzimmer sind die Betten einfach zu niedrig. Ins Bett komm´ ich zwar immer; aber selbst mit Hilfe der Assistenzperson vom Bett in den Rollstuhl zu gelangen bringt mich meist an den Rand der körperlichen Erschöpfung. Auch eine zweite Matratze draufzulegen ist nicht für jede Person eine Lösung. Mit meinem Beckenbereich liege ich zumindest in einer Mulde und kann mich dann nur schwer bis kaum in der Nacht drehen.
Passend zum Thema Reisen noch weiterer Input. Mal schnell einen Tagesausflug oder eine Zugreise zu machen klingt doch großartig. Aber auch dies birgt eine Reihe von Barrieren. So gibt es beispielsweise wenig rollstuhlgerechte Kabinenlifte. Zeit für Umwege zu den teils weit verstreuten barrierefreien Liften muss also eingeplant werden. Schlimm ist es beim Städte-Tourismus wenn die U- und S-Bahnlifte nicht funktionieren. Ich persönlich kann mit einer nur teilweise und eingeschränkt funktionsfähigen Schulterprothese aber auch nicht Rolltreppen nutzen. Und wenn die Lifte dann womöglich nicht funktionieren, darf man bis zur nächsten U- und S-Bahn Station rollen! In der Hoffnung dass dort der Lift funktioniert. Auch bei den Bergbahnen ist, um sie auch im Rollstuhl nutzen zu können noch sehr viel Platz nach oben. Bummelzüge haben oft einen zu schmalen Einstieg bzw. teilweise auch keine Einstiegshilfe. Das mit den Einstiegshilfen ist in Österreich zumindest bei rechtzeitiger Anmeldung/Reservierung bei der ÖBB auf den Hauptstrecken kein Problem.
Problematischer ist es eher auf den kleineren regionalen Bahnhöfen, da hier manchmal gar keine Einstiegshilfe geschweige denn
Hebelifte existieren. Auch sind in einigen Regionen nicht alle Bahnsteige barrierefrei zu erreichen. So wie ich konnten viele Rollstuhlreisende in den letzten Jahren zum Beispiel in Berlin nicht aussteigen, weil zu wenige Personen für die Ein- und Ausstiegshilfe zur Verfügung standen. Aber auch die taktilen Leitsysteme für Sehbeeinträchtigte sind generell noch sehr ausbaufähig. Daher ärgert es mich sehr, dass es z.B. bei mir in Oberösterreich Versuchsprojekte gibt, für die Handy-fixierten Personen zusätzliche Ampelleuchten an den Gehsteigkanten zu installieren, obwohl viele Menschen mit wirklicher einschränkender Behinderung suboptimal unterstützt werden.
Mein persönliches Highlight habe ich im Autoreisezug 2019 erlebt. Es war auch eine Verkettung von unangenehmen Zufällen, welche da zusammen kamen. Es gibt jeden Tag eine Kombination eines Multifunktionsabteils im Night-Liner der ÖBB mit einem Autoreisezug von Wien nach Hamburg bzw. umgekehrt. Im jetzigen Multifunktions-Schlafabteil des Night-Liners kann derzeit eine Rollstuhl nutzende Person mit einer Begleitperson reisen! Die Hinreise verlief wie gewohnt zunächst problemlos. Doch zwei Tage vor meiner geplanten Rückreise wurde ich informiert, dass der Zugwaggon mit dem Mobilitätsabteil aus technischen Gründen ausfällt. Die nächsten Reisetage seien bereits komplett ausgebucht. Ich könne jedoch in sechs bis sieben Tagen wieder mit einem Multifunktionsabteil bzw. Autoreisezug nach Hause reisen. Es war Mitte August. Abgesehen davon, dass auch in Hamburg in der Hauptreisezeit so gut wie keine rollstuhlgerechten Zimmer frei sind, wäre das eine ungeplante erhebliche finanzielle Mehrbelastung; für 5 - 6 Tage zusätzlich zwei Hotelzimmer zu buchen. Auf die Schnelle geeignete und erschwingliche Hotelzimmer für mich und meine Assistenz zu finden war schier unmöglich. So musste ich mich entscheiden, die Heimreise mit dem Auto anzutreten. Da ich jedoch nur etwa vier Stunden ohne Pause sitzen darf /soll und danach weitere vier Stunden liegen muss, um wieder 4½ Std. sitzen zu können war es eine große Herausforderung. Ich, wir mussten eine passende Unterkunft, Hotelzimmer auf halben Wegabschnitt suchen. Was für eine Reise!
Nachdem ich mit meinem Rollstuhl in einem normalen Reisezug nicht einmal bis in ein „normales“ Sitzabteil käme, war es für mich in meinen gesamten Einschränkungsumfang auch nicht möglich in einem anderen Zug nach Österreich zurückzukehren. Auch den neuen Multifunktionsabteilen in der kommenden Ausführung der ÖBB Night-Liner für 2 Rollstuhl Nutzende und 2 Begleitpersonen stehe ich äußerst skeptisch gegenüber. Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen / Einschränkungen benötigen unterschiedlichste Formen einer Intimsphäre! Wieder einmal ein gutes Beispiel, wie irgendwelche Schreitischtäter etwas für uns, aber ohne uns entscheiden, planen und umsetzen!
UN-Barrierefreiheit in Zeiten von Corona, stellte auch für die Betreuungspersonen eine Wechselsituation dar. Abgesehen dass mein aus Rumänien stammender Begleiter nicht mehr nach Hause fahren konnte, war es für ihn sehr belastend, in dieser schwierigen Zeit von seiner Familie getrennt zu sein. Aber überhaupt auch neue Assistenz-, Betreuungs- bzw. Pflegekräfte aus Süd-Ost-Europa nach Österreich zu bekommen ist / war sehr schwierig. Einerseits gibt es da die Reise- und Grenz-Einschränkungen. Auf der anderen Seite, wenn Assistenz-, Betreuungs- bzw. Pflegekräfte es nach Österreich schaffen, müssen diese erst für 24 Stunden für die SARS CoVid-19 Testung in ein Hotel. Nicht selten müssen die auf Betreuer*innen angewiesenen Personen und Menschen mit Behinderung die dafür anfallenden mindestens 200,– € aus eigener Tasche zahlen. Wenn man es genau nimmt, ist auch dies eine Form der Behinderung. Denn, je nach Turnusdauer fallen für Betroffene zwischen 200,– € (bei 28 Tage-Turnus) bis 400,– € (bei 14 Tage-Turnus) Mehrkosten pro Monat an. Ich kenne etliche, welche momentan nicht wissen, wie sie diese Mehrbelastung stemmen können und sollen!
Sie sehen: Barrierefrei ist nicht gleich behinderten- oder pflegegerecht.
Richard Schaefer
Sicht-Wechsel: Warum barrierefrei nicht barrierefrei ist
- Details