In meinem Halbjahrszeugnis der dritten Volksschulklasse – damals trennte man noch nicht in Grund- und Mittelschule – stand: „Die Schrift ist oft nur mangelhaft. Er ist im Zeichnen und Malen noch Linkshänder.“ Mit der rechten Hand zu schreiben war die Norm, mit der linken zu schreiben eine Abweichung, so einer KANN gar nicht schön schreiben, deshalb bekam ich, weil man mein Gekrakel immerhin offenbar noch lesen konnte, trotz der „oft mangelhaften“ (= 5) Ergebnisse im Durchschnitt einen Vierer, also „ausreichend“ im Zeugnis.
Ob Linkshändigkeit eine Behinderung ist, will ich hier nicht diskutieren. Manche Linkshänder sehen es so. Mir geht es dabei um Folgendes: Die Lehrerin, eine echte Vertreterin der schwarzen Pädagogik, wollte mir diese Abweichung von der Norm austreiben und belegte sie mit einer schlechten Note. Das ist in meinen Augen Ableismus.
Bei Google fand ich dazu als Definition (von der der EUTB):
„Ableismus ist das Fachwort für die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung (‚Diskriminierung‘) wegen einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung oder aufgrund von Lernschwierigkeiten. Es ist also ‚Ableismus‘, wenn ein Mensch wegen einer bestimmten, oft äußerlich wahrnehmbaren Eigenschaft oder einer Fähigkeit – seinem ‚Behindertsein‘ – bewertet wird.
Das Wort kommt aus dem Englischen und klingt ähnlich wie ‚Rassismus‘ oder ‚Sexismus‘. Das ist beabsichtigt. Es soll ja eine Form von Diskriminierung bezeichnen – so wie rassistische oder sexistische Denk- und Verhaltensweisen“ (…)
„Eine Diskriminierung kann übrigens auch eine positive Äußerung sein. Zum Beispiel, wenn Menschen mit Behinderungen beim Erledigen von ganz alltäglichen Dingen immer wieder hören, wie toll es ist, dass sie das ‚schaffen‘. Jede Person würde es als unangenehm empfinden, wenn sie beispielsweise für das Öffnen einer Tür oder Haare kämmen ‚gelobt‘ werden würde.“
Die Aktion Mensch meint dazu: „Genauer bedeutet Ableismus also, dass Menschen mit Behinderung von anderen Menschen ohne Behinderung auf die Merkmale reduziert werden, in denen sie sich vom vermeintlichen Normalzustand unterscheiden. Dies können zum Beispiel sichtbare oder unsichtbare Merkmale sein, also ein Rollstuhl oder eine psychische Erkrankung. Von diesen Merkmalen wird anschließend, ohne die Person mit Behinderung zu kennen oder mit ihr zu sprechen, beispielsweise darauf geschlossen, was die Person vermeintlich kann oder nicht kann oder wie sich die Person fühlt – und entsprechend wird sie behandelt. Diese Ungleichbehandlung ist eine Art von Diskriminierung.“ (Quelle Google)
Ein Problem dabei ist, dass unsere Gesellschaft auf Konkurrenz und Wettbewerb fußt und Menschen überall nach äußerlichen Kriterien beurteilt werden. Das beginnt im Kindergarten und in der Schule und setzt sich im Berufsleben fort. Solange wir in einer Gesellschaft leben, die die Menschen nach ihrem ökonomischen Nutzen klassifiziert, was in zugespitzter Form dazu führt, dass zwischen lebenswertem und lebensunwertem Menschen, zwischen nützlichen Gliedern der Gesellschaft und unnützen Essern unterschieden wird, können wir nur versuchen, dieser Klassifizierung entgegenzutreten und alle Menschen um ihrer selbst willen wertzuschätzen und zu achten. Mit Verbalkosmetik ist es jedenfalls nicht getan.
Werfen wir einen Blick ins Tierreich. Wenn junge Tiere miteinander spielen, wie man es in den im Fernsehen gern gezeigten Tierfilmen beobachten kann, dann kämpfen sie spielerisch miteinander oder wetteifern auf sonst eine Art und Weise. Wir Menschen sind eine Art Tiere, auch wir wetteifern. Kinder rennen um die Wette. Beim Spiel geht es darum, sich als geschickt oder clever zu erweisen. Das findet spontan statt, ohne dass man dafür Olympiaden ausrufen müsste. „Wer ist schneller an der nächsten Straßenecke, ich oder du?“ Unvermeidlich verlieren bei solchem Wettstreit Schwächere. Werden beim Aufstellen von Fußballmannschaften als letzte gewählt oder ins Tor gestellt, wo sie keine Chance haben, sich durch Tore auszuzeichnen.
Wird das Ganze professionalisiert durch Wettbewerbe wie „Germany’s Next Top Model“, wo es ums Aussehen geht, oder „Deutschland sucht den Superstar“, wird der Konkurrenzkampf erbarmungslos. Beim „Dschungelcamp“ entscheidet das Publikum, wer ausscheiden muss. Ich habe einmal eine Ausstrahlung von „Hunger Games“ gesehen, dem dystopischen Film, in dem Teilnehmer und Teilnehmerinnen auf Leben und Tod gegeneinander kämpften. Auf einem anderen Sender lief GNTM, beim Umschalten zeigte sich, hier geht es nicht anders zu, zur Belustigung des Publikums, wie wie schon im alten Rom bei den Gladiatorenkämpfen in der Arena.
Als ich jünger war, war ich in einer Organisation, die für Jugendliche einmal Spiele veranstaltete, die NICHT wettkampforientiert waren. Diese Spiele waren, ich muss es sagen, stinklangweilig. Offensichtlich würzen erst der Wettstreit und die Konkurrenz das Spielvergnügen, ob es um den „Schwarzen Peter“ geht, um die „Siedler von Catan“ oder um die Meisterschale der Bundesliga.
Auch im Alltag und erst Recht im Arbeitsleben, gibt es Konkurrenz. Das geht schon los, wenn im Supermarkt lange Schlangen vor den Kassen stehen und eine neue Kasse aufgemacht wird. Immer gibt es solche Leute, die viel schneller als andere sich dort anstellen und die vorderen Plätze ergattern. Da könnte man höchstens mit dem Ziehen von Nummern eine Art Gerechtigkeit herstellen.
Ein Problem liegt darin, dass in unserer Gesellschaftsordnung, dem Kapitalismus, Bewerten letztlich immer mit Bezahlen verbunden ist. Wer schlechter bewertet wird, bekommt weniger. Man verdient nicht nach Verdienst, sondern danach, wie man eingeschätzt wird.
Umso deutlicher noch, wenn es darum geht, eine Stelle zu bekommen. Und hier kommt der Ableismus ins Spiel. Früher hieß es, Frauen können keine Malerinnen sein, höchstens Musen oder Modelle. Das ist Unsinn. Was Menschen mit einer Behinderung betrifft, sind durch Antidiskriminierungsgesetz und Vorschriften zur Gleichbehandlung Regeln eingeführt, die Benachteiligung von Menschen mit Einschränkungen verhindern sollen. Was aber durch Gesetze nicht in den Griff zu bekommen ist: Was in den Köpfen der Menschen vorgeht. Wenn also Personalverantwortliche jemanden von vornherein als ungeeignet betrachten, weil Frau, weil blind, weil im Rollstuhl usw., dann kann man schwer nachweisen, aus welchen Gründen sie sich für oder gegen eine Bewerberin oder einen Bewerber entscheiden.
Auch wenn in der Stellenausschreibung steht, „bei gleicher Eignung werden Menschen mit Behinderung bevorzugt“, ist damit nicht gesagt, dass wirklich die gleiche Eignung in Betracht gezogen wird. Um noch einmal zum Eingangsbeispiel zurückzukehren, wenn ein Schuldirektor der Meinung ist, linkshändige Lehrer geben Schülern ein schlechtes Beispiel, wird ihm ein Linkshänder als weniger geeignet erscheinen, ohne dass diese Bewertung in der Besetzung der Stelle ausdrücklich benannt wird.
Personalentscheidungen müssen begründet werden und nachvollziehbar sein.
Wie kann man sich gegen Ableismus zur Wehr setzen? Es gibt die Möglichkeit, sich an den Betriebsrat, die Gleichstellungsbeauftrage usw. zu wenden. Ein Problem dabei ist, die ableistische Behandlung nachzuweisen. Hilfreich ist, sich mit anderen Menschen, denen dasselbe widerfährt, auszutauschen und zusammenzutun. Und jedenfalls sich nichts gefallen zu lassen, sondern den Sachverhalt offen anzusprechen. Erfolg ist nicht garantiert. Versuchen sollte man es.
Ein Wort noch zur erwähnten „positiven Diskriminierung“. Zweifellos kann man es als diskriminierend empfinden, wenn man für Selbstverständlichkeiten gelobt wird. Also wenn jemand sagt, „ich finde es toll, dass Sie im Rollstuhl sitzen und trotzdem arbeiten.“ Das ist gerade so, wie man zu Menschen mit einem offenkundig nicht deutschen Namen, die in Deutschland aufgewachsen sind, sagt, „Sie sprechen aber gut deutsch.“ In solchen Fällen ist aber doch die Absicht wichtig. Will sich der andere als gönnerhaft und herablassend zeigen, oder will er bloß „nett sein“? Ich bezweifle, dass es förderlich ist, in so einem Fall automatisch empfindlich und beleidigt zu reagieren, auch wenn so eine Behandlung, kommt sie regelmäßig vor, nervt.
In der Kommunikation sollten ALLE Beteiligten aufeinander zugehen und für einander Verständnis haben. Sonst kommen wir nie auf einen grünen Zweig.
Jürgen Walla