Liebe Carola,

ich erinnere mich an viele gemeinsame Projekte und Unternehmungen, aber ich denke auch gerne zurück an den Anfang, an den Tag, an dem du dich vorgestellt hast. Vor dreißig Jahren war das!
Wir – einige Vorstandsmitglieder, Dr. Ruth Kern und ich - saßen in unserem damaligen Büro in der Knorrstraße und empfingen eine Bewerberin nach der anderen (an diesem Tag war kein einziger Mann dabei). Wir suchten jemanden, der die Beratung behinderter Menschen übernehmen und die Außenkontakte pflegen konnte. Viele haben sich vorgestellt. Und bevor du kamst, hatten schon etliche Bewerberinnen beschrieben, wie sie sich die Arbeit beim CBF vorstellten. Unter ihnen gab es auch eine Reihe von Sozialarbeiterinnen. Wahrscheinlich ist damals mein Vorurteil gegen Sozialarbeiter entstanden. Denn sie wussten wenig, erklärten aber großspurig, was sie alles in die Wege leiten würden. Du, liebe Carola, hast mir später immer mal wieder erklärt, dass es auch brauchbare Sozialarbeiter geben würde. Das musste ich rein theoretisch natürlich zugestehen. Und mittlerweile habe ich auch mit einigen gute praktische Erfahrungen gemacht.
Damals ist mir eine Sozialarbeiterin besonders aufgefallen. Sie kam, setzte sich an den Tisch und schob einen dort liegenden Aktenordner mit einer leicht ungeduldigen Bewegung an den Rand. Danach holte sie ihre eigenen Unterlagen aus einer Aktenmappe und breitete sie dekorativ über den Tisch. Wir führten ein langes Gespräch. Da war ich ganz sicher, dass ich mit dieser Person niemals zusammenarbeiten würde. Wir beendeten das Gespräch. Sie stand geduldig lächelnd auf, räumte ihre Unterlagen zusammen und schwang ihren Mantel elegant um die Schultern. Dann ging sie auf mich zu, neigte sich zu mir herunter und sagte, indem sie mir ermutigend in die Augen schaute: „Ich werde die Dinge hier schon in Ordnung bringen. Verlassen Sie sich drauf!“ Nein, darauf wollten wir uns nicht verlassen, das war allen Anwesenden klar.
Es kamen aber auch die Bescheidenen und die Unscheinbaren, die Verwirrten und die Unbedarften. Eine Frau erschien sogar mit ihrem Mann. Er erklärte ihr fortlaufend – mit eindringlich leiser Stimme - um was es gehe und dass sie es schon schaffen würde. Bleich stand sie daneben und zuckte mit keiner Miene. Sie wirkte gequält und verängstigt. Ob sie überhaupt sprechen konnte, war nicht festzustellen. Er jedoch hatte die Arbeit beim CBF offensichtlich als eine Rehabilitationsmaßnahme für seine überforderte Frau verstanden.
Dann kamst du. Englisch, Geschichte und Politologie hattest du studiert und ursprünglich wolltest du Lehrerin werden. Nichts an dir war aufgepfropft oder gekünstelt. Alle Fragen hast du freundlich und unprätentiös beantwortet. Und von Behinderten hattest du glücklicherweise keine Ahnung. Sprich, du warst der einzige Lichtblick an diesem anstrengenden Nachmittag, der einzige Stern in dieser traurigen Galerie von Anwärtern. Wen also sollten wir anstellen, wenn nicht dich?!
Die Ahnung, ja das breite Wissen über behinderte Menschen und ihre vielfältigen Probleme hast du dir dann rasch und gründlich angeeignet. Sehr hilfreich, für uns alle, waren damals die Clubabende. Jeden Montag trafen wir uns in den Räumen der Stiftung Pfennigparade (die uns diese Räume 40 Jahre lang kostenlos überlassen hat – vielen Dank dafür!). An diesen Montag-Abenden haben immer 20 bis 50 Clubmitglieder – nichtbehinderte oder behinderte (verschiedenartig, leicht oder schwer behindert) teilgenommen. Die haben sich gegenseitig informiert, sich von der Arbeit des Clubs berichten lassen und diskutiert, was als nächstes Projekt drankommen sollte und wie die Arbeit verteilt würde. Wir Behinderte wollten nicht nur selbstbestimmt leben, sondern auch unseren Club selbstbestimmt führen. Das galt auch für dich: Du – die neue Mitarbeiterin - solltest selbst bestimmen können, was du als dringend erachtest und wie du zu einer Problemlösung kommen würdest. Dabei solltest du dich selbstverständlich mit uns absprechen, aber du warst nicht weisungsgebunden im engeren Sinne. Was nötig war, gaben uns die Umstände vor: Wenn die Mobilität Behinderter in München im Argen lag, dann kämpften wir um einen Fahrdienst. Als die Bahn keine fahrzeuggebundene Einstiegshilfe einführen wollte, sollte es wenigstens eine freie Einstiegshilfe geben. Wenn unsere Suchmaschine für barrierefreie Arztpraxen sinnvoll sein sollte, dann musste sie regelmäßig überarbeitet werden und dafür musste Geld her. Also begann die Suche nach einem entsprechenden Zuschuss und so weiter – für dich 30 lange Jahre.
Nun also sind diese 30 Jahre vorbei. Die Stadt München hat dich vor etlichen Jahren schon für deine Arbeit geehrt mit einer schönen Auszeichnung – mit „München leuchtet“ nämlich.
Und wie Claus Fussek in seiner festlichen Lobesrede zu unserem 40. Clubjubiläum betonte: Bei uns und zwischen uns allen gab es nie Eitelkeiten oder Ruhm-Süchteleien, die uns an der kontinuierlichen Arbeit, an der guten Zusammenarbeit gehindert hätten. Unsere Triebfeder war immer die Dringlichkeit der Probleme und der Erfolg, den wir erreichen konnten. Und diese Erfolge, die wir bei allen gelegentlichen Misserfolgen erzielt haben, haben unsere „Sisyphos-Arbeit“ wie du es in deinem Festvortrag so schön beschrieben hast, doch auch zu einer lustvollen Sache gemacht.
So haben wir in diesen 30 Jahren im Grunde auch nie das Vergnügen aneinander und an der Zusammenarbeit verloren. Und das ist mehr als so manche Ehe von sich sagen kann!
Und glücklicherweise – liebe Carola – gehst du ja nicht ganz. Du bleibst uns als Vorstandsmitglied erhalten. Und das ist gut so! Denn wir möchten nicht auf deinen Durchblick, deine Beharrlichkeit und deine Kollegialität verzichten.
Außerdem können wir jetzt gemeinsam mal wieder etwas Vergnügliches unternehmen, eine Fahrt ins sommerliche Bayernland, einen Biergartenbesuch oder einen Badeausflug ins vielgelobte Further Naturbad – jedenfalls so lange bei dir der Rentner-Stress noch nicht eingesetzt hat.
Ich freue mich auf dich!
Deine Ingrid<