GroKo wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2013 gewählt, weil es in seinem Anklang an das Wort Krokodil eine halb spöttische Haltung gegenüber einer Koalition aus SPD und CDU/CSU zeige, die nach derzeitiger Lage der Dinge mit einer Mehrheit von immerhin 66,3 % der Stimmen und 504 von 631 Abgeordneten (knapp 80 %) Deutschland bis zum Jahr 2017 regieren wird. Anhänger der Großen Koalition verteidigen diese mit den immensen Herausforderungen dieser Tage, wie Energiewende und Eurokrise, denen nur mit einer breiten Mehrheit und dem dahinterstehenden Konsens der gesamten Gesellschaft begegnet werden kann.
Wird aber diese Große Koalition auch im Bereich der Behindertenpolitik maßgebliche Impulse setzen und insbesondere bei der Umsetzung der von Deutschland bereits 2009 ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention Fortschritte erzielen?
Aussagen der Präambel des Koalitionsvertrags
Ein erster Ausgangspunkt für diese Frage muss natürlich der zwischen SPD und CDU/CSU ausgehandelte Koalitionsvertrag sein. In wochenlangen Verhandlungen, großen und kleinen Runden, Arbeits- und Unterarbeitsgruppen hatten die zukünftigen Koalitionäre alle Aspekte einer Zusammenarbeit erörtert und sich dann auf einen Koalitionsvertrag von 185 Seiten geeinigt, der nach einem positiven Mitgliederentscheid der SPD und Billigung der anderen Parteien nun Grundlage des Handelns der Großen Koalition ist.
Dieser umfangreiche Vertrag enthält wiederum eine Präambel von fünfeinhalb Seiten. Dabei handelt es sich um eine Art von Vorbemerkung, was die Unterzeichner der Vereinbarung in den kommenden Jahren erreichen möchten und welche Maßnahmen hierfür geplant sind. Auch wenn solche Erläuterungen keine rechtlichen Verpflichtungen begründen, geben sie doch Aufschluss über das geplante Handeln und damit über die Schwerpunkte, die in einer zukünftigen Regierung gesetzt werden. Wer erwartet hatte, dass die Präambel bereits eine besondere Berücksichtigung behindertenspezifischer Belange enthält, wird enttäuscht sein: bei den Ausführungen zur Bildung fehlt ein Hinweis auf eine anzustrebende Inklusion ebenso wie der auf Barrierefreiheit bei den Ausführungen zu Infrastruktur oder digitalen Medien. Positiv zu werten ist hingegen die geplante Ausweitung der Pflegeversicherung und die Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes, um die Kommunen bei der Eingliederung behinderter Menschen zu unterstützen (beides Seite10 des Koalitionsvertrags, KV). Zusammenfassend bleibt die Präambel aber unnötig zurückhaltend. Ein flammendes Bekenntnis zur Umsetzung inklusiver Politik sieht anders aus.
Doch was sieht der eigentliche Text des Koalitionsvertrags vor?
Nichts über uns ohne uns
Hier widmet der Koalitionsvertrag im Abschnitt 4 (Zusammenhalt der Gesellschaft) unter Ziffer 4.1. (Miteinander stärken und Chancengleichheit verbessern) ein eigenes Kapitel der Behindertenpolitik. Unter der Überschrift „Menschen mit und ohne Behinderungen“ (Seite 110 f. des KV) bekennt sich die Große Koalition zunächst zur inklusiven Gesellschaft (also einer Gesellschaft, in der Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen am Leben in all seinen Facetten teilnehmen) und folgert daraus eine Einbeziehung behinderter Menschen in die sie betreffenden Entscheidungsprozesse. Im Einzelnen listet das Kapitel sodann vier Bereiche auf, in denen die Große Koalition tätig zu werden beabsichtigt: Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (durch Weiterentwicklung des Nationalen Aktionsplans), Stärkung des inklusiven Arbeitsmarkts (unter anderem durch eine Inklusionsinitiative), Reform der Eingliederungshilfe (wobei die Einführung eines Bundesteilhabegesetzes geprüft werden soll) und Barrierefreiheit im Netz (eventuell durch Einführung eines Prüfsiegels „Barrierefreie Website“).
Ausdrückliche Erwähnung behindertenspezifischer Belange in anderen Kapiteln des Koalitionsvertrags
Abgesehen von diesem explizit der Behindertenpolitik gewidmeten Kapitel sind aber an vielen Stellen des Koalitionsvertrags behindertenspezifische Formulierungen zu finden:
- Im Kapitel Tourismus (1.1., S.24 des KV) wird auf die Notwendigkeit weiterer Anstrengungen mit Blick auf die Barrierefreiheit verwiesen.
- Bei der Allianz für Aus- und Weiterbildung (1.2., S. 31 des KV) wird die Eingliederung junger Menschen mit Behinderung in eine Berufsausbildung als besonderes Anliegen bezeichnet.
- Im Kapitel Verkehr, System Schiene (1.3., S. 42) erfolgt ein Bekenntnis zu barrierefreien Bahnhöfen, das in einem eigenen Unterabschnitt „Barrierefreiheit“ präzisiert wird (S. 45). Neben barrierefreien Fahrgast- und Tarifinformationen beinhaltet dies den barrierefreien Aus- und Umbau größerer Bahnhöfe und geeignete, kostengünstige Lösungen für kleinere Bahnhöfe und setzt sich zum Ziel, dass die gesamte Reisekette ohne Barrieren genutzt werden kann. Beim kürzlich liberalisierten Fernbusverkehr soll die Umsetzung von Barrierefreiheit mit einem zusammen mit den Betroffenen erstellten Handbuch unterstützt werden (S. 45).
- Im Kapitel Gesundheit und Pflege, ambulante Gesundheitsversorgung (2.4. S. 76) sollen durch einen neuen § 119c SGB V für Erwachsene mit geistiger und schwerer Mehrfachbehinderung medizinische Behandlungszentren zur (zahn-) medizinischen Behandlung geschaffen werden.
- Im selben Kapitel wird im Unterabschnitt Pflege (S. 84) die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs in Aussicht gestellt, umfassende Maßnahmen im Bereich der Pflege werden angekündigt.
- Im Kapitel Kultur, Medien und Sport, Kultur (4.3) sichert der Koalitionsvertrag im Unterabschnitt Gedenken und Erinnern, kulturelles Erbe, Baukultur (S.130) zu, die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus wach zu halten sowie den systematischen Mord an bestimmten Gruppen (somit auch an die Euthanasieprogramme und die systematische Ermordung behinderter Menschen).
Zusammenfassend lassen sich dem Text des Koalitionsvertrags also doch eine beachtliche Reihe von Antworten auf behindertenpolitische Forderungen entnehmen. Einige davon sind in bedenklicher Weise unverbindlich und bergen somit die Gefahr zu versanden. Was soll man sich beispielsweise unter „geeigneten, kostengünstigen Lösungen“ bei kleineren Bahnhöfen vorstellen, die zusammen mit den Betroffenen zur Realisierung der Barrierefreiheit entwickelt werden sollen? An anderen Stellen wird der Koalitionsvertrag dann aber erfreulich konkret, wie zum Beispiel bei der Ankündigung eines neuen § 119 c SGB V zur Schaffung medizinischer Behandlungszentren.
Verwirklichung von Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention, ohne dass behindertenspezifische Aspekte angesprochen werden
Doch damit nicht genug: An einer Reihe von Stellen werden wesentliche, in der UN-Behindertenrechtskonvention angesprochene Maßnahmen gefordert oder Ziele angestrebt, ohne dass explizit die Relevanz für behinderte Menschen angesprochen wird.
- So wird im Kapitel Lebensqualität in der Stadt und auf dem Land, Gutes und bezahlbares Wohnen (4.2.) im Unterabschnitt generationen- und altersgerechter Wohnraum (S. 116) auf die Notwendigkeit barrierefreien und –armen Wohnraums verwiesen und ein neues Programm „Altersgerecht Umbauen“ angekündigt. Das mag dem Wortlaut nach auf das Alter bezogen sein, ist der Sache nach aber insbesondere auch für behinderte Menschen von Belang und wird in Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention eigens geregelt.
- So fördern die im Kapitel Kultur, Sport und Medien, Unterabschnitt Digitale Medien (4.3., S. 137) vorgesehenen Maßnahmen auch das Recht der freien Meinungsäußerung und den Zugang zu Informationen von behinderten Menschen wie in Artikel 21 der Behindertenrechtskonvention vorgesehen.
- So entspricht die im Kapitel Moderner Staat, lebendige Demokratie und Bürgerbeteiligung im Unterabschnitt Moderne Justiz (5.2., S. 154) angekündigte Weiterentwicklung der Rechtsgrundlagen für den elektronischen Rechtsverkehr und die elektronische Akte in der Justiz Forderungen des Artikels 13 der UN-Behindertenrechtskonvention (Zugang zur Justiz).
Und die Liste ließe sich fortführen.
Alles in allem lassen sich dem Koalitionsvertrag somit beachtliche Ansätze für eine stimmige und erfolgversprechende Behindertenpolitik entnehmen. Jedoch – allzu viele der von den Koalitionären angesprochenen Vorhaben verharren im Unbestimmten: die Einführung eines Bundesteilhabegesetzes wird ebenso wie die eines Prüfsiegels „Barrierefreie Website“ beispielsweise (nur) geprüft, weitere Anstrengungen im Hinblick auf Barrierefreiheit im Tourismus werden lediglich als nötig bezeichnet. Und so weiter, und so fort. Der vorliegende Koalitionsvertrag ist daher allenfalls ein recht brauchbares Knochengerüst. Ob die Große Koalition dieses Gerüst bis zu den nächsten Wahlen mit Fleisch füllt, bleibt abzuwarten.
Ein wichtiger Punkt freilich ist im Koalitionsvertrag gar nicht geregelt – die Sterbehilfe. In dieser wichtigen Frage konnten sich die Koalitionäre in ihren Verhandlungen nicht einigen. Es wird daher eine gesetzliche Neuregelung über Parteigrenzen hinaus angestrebt.
Es bleibt somit spannend!
Wolfgang Vogl