(Wie viel Sexualität und Sex darf ich haben?)
DAS Thema ist heiß, heißer und noch einmal heißer! Seit ca. 25 Jahren wird in der deutschen Behindertenarbeit verstärkt Sexualität und sexuelle Erziehung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen thematisiert. Die ersten Veröffentlichungen waren Übersetzungen aus dem Niederländischen oder Amerikanischen, die deutschen Fachbeiträge folgten in den achtziger Jahren.
Inzwischen hat sich aufgrund der Normalisierung des Lebensalltags von Menschen mit einer Behinderung in Familien, Schulen, Heimen und Wohnstätten zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass Menschen mit Beeinträchtigungen dieselben Persönlichkeitsrechte zur freien Entfaltung ihrer Sexualität zuzugestehen sind, wie der so genannten nicht behinderten Normalbevölkerung auch.
Der hier vorliegende Artikel über Sexualassistenz und Sexualbegleitung basiert auf meinem Vortrag bei einer Fortbildung für Kontinenz-/Stoma-Schwestern im Oktober 2013 in Linz.
„Die Dimension von Sexualität ist sehr vielschichtig, da sie neben den biologischen Faktoren viele psychische Aspekte beinhaltet wie zum Beispiel Liebe, Zuneigung und Geborgenheit.“ (Meudt, 2006)
Ihre Sexualität zu leben, ist für die meisten Menschen ein zentraler Punkt in ihrem Leben. Ohne Sexualität gäbe es überhaupt gar keine Menschen. Sie ist ein Grundbedürfnis, auch wenn es riesige Unterschiede bei den einzelnen sexuellen Bedürfnissen gibt. In den Medien ist das Thema Sex übertrieben dominant geworden, so dass sogar auch kognitiv schwächere Personen mitbekommen, dass da irgendetwas Besonderes ist, auch wenn sie manchmal vielleicht nicht das ganze Ausmaß erfassen/erkennen können. Weil Sexualität so viel Raum in „unserer“ Gesellschaft einnimmt und vor allem weil es ein Grundbedürfnis ist, wäre es einfach total falsch und zu einfach zu sagen, mit einer angeborenen oder erworbenen Beeinträchtigung hat die Person keine Sexualität bzw. nicht mehr! Sexualität/Sex und Behinderung sind keine zwei Welten, wie es beispielsweise viele querschnittgelähmte Menschen beweisen. Nicht selten wird bei einer erworbenen Behinderung auch die Sexualität neu entdeckt; ja sogar vielleicht in einer bestehenden Beziehung wieder neu belebt! Ich weiß nur zu gut aus meiner persönlichen Situation, dass das auch ein nicht ganz leichter Weg sein kann! Aber es ist die Chance, mit bzw. durch neue Formen und Wege einfach über eine andere Herangehensweisen oder mit verschiedenen Hilfsmitteln neuen „Saiten“ neu „aufzuziehen“. So wie eine Harfe bei jedem Musiker ein wenig anders klingt, wenn er über die Saiten streicht, so ist auch der Umgang mit Sexualität und Sex einfach grenzenlos! Und jeder Betroffene wird seine Saiten im gemeinsamen Umgang mit seinem jeweiligen Gegenüber neu entdecken und zu „spielen“ lernen!
Bei erworbenen Beeinträchtigungen finden viele Paare einen neuen Weg für das neue Saitenspiel der Sexualität! Aber … was tun, wenn da noch Niemand da ist oder der/die PartnerIn abhanden gekommen ist, da es einfach zu komplex ist, was da an Veränderungen durch eine erworbene Beeinträchtigung auf die Beziehung eines Paares zukommt!? Die einfachste Möglichkeit (wenn auch nicht für jeden fahrbar) ist, den Weg zu einer Prostituierten zu suchen. Inzwischen bieten zumindest bessere Escort-Service-Agenturen in ihrem Angebot auch die Rubrik „Rollstuhlfahrer ja/nein“ an! Aber für Andere ist es wiederum oftmals die einzige Möglichkeit, sexuelle Bedürfnisse auszuleben, eine Sexualbegleitung in Anspruch zu nehmen. Doch dieses Angebot ist nicht nur Gegenstand hitziger Debatten; sondern in Österreich auch immer noch spärlich gesät! In den vergangenen Jahren hat das Thema der Sexualassistenz und der Sexualbegleitung im Kontext von Menschen mit Beeinträchtigung jedoch durchaus sehr an Bedeutung zugenommen.
„Sexuelle Gesundheit ist untrennbar mit Gesundheit insgesamt, mit Wohlbefinden und Lebensqualität verbunden.“ (WHO, 2013)
In der „Europäischen Charta der Rechte und Pflichten älterer hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“ wird in zehn Artikeln festgelegt, wie ältere pflegebedürftige Menschen zu behandeln sind und wie ihre Rechte lauten.
In Art 1, Abs. 1-2 ist zu lesen: „Respektierung und Schutz ihres körperlichen, sexuellen, psychischen, emotionalen, finanziellen und materiellen Wohlbefindens.“
Am 26. 8. 1999 wurde bei der Generalversammlung der World Association for Sexual Health (WAS) in Hongkong eine Erklärung der sexuellen Menschenrechte verfasst. Der Leiter der deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS), Rolf Gindorf, hat diese elf Rechte wie folgt ins Deutsche übersetzt:
„1.Das Recht auf sexuelle Freiheit.
2. Das Recht auf sexuelle Autonomie, sexuelle Integrität und körperliche Unversehrtheit.
3. Das Recht auf eine sexuelle Privatsphäre.
4. Das Recht auf sexuelle Gleichwertigkeit.
5. Das Recht auf sexuelle Lust.
6. Das Recht auf Ausdruck sexueller Empfindungen.
7. Das Recht auf freie Partnerwahl.
8. Das Recht auf freie und verantwortungsbewusste Fortpflanzungsentscheidungen.
9. Das Recht auf wissenschaftliche fundierte Sexualaufklärung.
10. Das Recht auf umfassende Sexualerziehung.“
Als Dipl.-Sexualpädagoge sehe ich meine Aufgaben darin, Sie an meiner Grundhaltung teilhaben zu lassen, indem ich hier ein wenig detaillierter darauf eingehen werde.
Die „Sexualassistenz oder Sexualbegleitung“ ist nicht nur ein Thema für Menschen mit Beeinträchtigung, sondern hat sich in den letzten Jahren durchaus immer mehr auch zu einem Thema für ältere Menschen und Menschen in Pflegeinrichtungen entwickelt! So hat mir eine Sexualbegleiterin, mit der ich zusammenarbeite, folgendes Erlebnis erzählt:
Sie wurde von einer 70jährigen Frau angerufen und um ein Gespräch gebeten. Ihr Mann lebe in einer Pflegeeinrichtung. Er habe im Gegensatz zu ihr in sexueller Hinsicht noch einige Bedürfnisse. Sie möchte, dass es ihrem Mann gut gehe. Ein Erstgespräch fand zu Dritt statt. Die Dame war mit dem, was besprochen wurde und der Sexualbegleiterin sehr zufrieden. Bei dem „Begegnungstermin“ selbst war sie zu Beginn auch noch da und wünschte dann der Begleiterin und ihrem Mann eine schöne Zeit. ---- Das nenne ich auch eine von der Frau mitgelebte Sexualität im Alter!!
Was ist mit „Sexualassistenz oder Sexualbegleitung“ gemeint?
In der Fachdiskussion wird häufig zwischen passiver und aktiver sexueller Assistenz und Sexualbegleitung unterschieden:
1. Passive Assistenz
Bedeutet, konkrete Voraussetzungen für die Verwirklichung selbstbestimmter Sexualität zu schaffen, z.B. durch Sexualpädagogik oder Sexualberatung, durch Informationen über Praktiken, durch Beschaffung von Materialien und Hilfsmitteln, durch die Besorgung von Videos und auch die Vermittlung von Prostituierten oder Terminen bei einem Service-Dienst.
2. Aktive Assistenz
Meint alle Formen von Assistenz, bei denen Mitarbeitende und Pflegekräfte in eine sexuelle Interaktion aktiv einbezogen sind. Neben erotischer Massage wird die Hilfestellung bei Masturbation (so genannte Handentspannung) und jegliche Form des aktiven „Hand-Anlegens“ darunter verstanden. Im Gegensatz zu Deutschland, wo „Aktive Assistenz“ bis hin zum Geschlechtsverkehr gehen kann, ist dies in Österreich gesetzlich ganz klar abgegrenzt. Küsse, Zungenküsse, orale Intimkontakte und Geschlechtsverkehr sind in der Sexualassistenz ganz ausgenommen. Sonst wäre die Grenze zur Prostitution fließend. Durch das Herausnehmen dieser „Angebote“ bleibt sie im therapeutischen Milieu angesiedelt bzw. kann sie so definiert werden. Es ist klar darauf hinzuweisen: Zungenküsse, orale Intimkontakte und Geschlechtsverkehr sind in Österreich nicht im Profil der Sexualbegleitung, in Deutschland jedoch schon.
In Abgrenzung dazu meint Sexualbegleitung eine aktive Assistenz, bei der die Assistenzgeber/innen auch über pädagogische und/oder pflegerische Kompetenzen verfügen. Diese Kompetenzen stellen also eine grundlegende Basisqualifikation einer professionellen Sexualassistenz dar. Insofern kann professionelle Sexualbegleitung auch von Prostitution unterschieden und abgegrenzt werden.
In Österreich gibt es mehrere kleinere und zwei größere Projekte zum Thema Sexualität und Behinderung. Auf die beiden größeren möchte ich kurz eingehen:
Libida alphanova (Graz/Steiermark)
Das Projekt „Libida alphanova“ in der Fachstelle „ .hautnah.“ arbeitet mit selbstständigen Sexualbegleiterinnen und Sexualbegleitern zusammen. Im Projekt „Libida … mehr Lust im Leben“ wurde über 3 Jahre lang die LIBIDA-SEXUALBEGLEITUNG® entwickelt. Auch Frauen und Männer mit Behinderung haben mitgearbeitet, um die Beachtung ihrer Bedürfnisse in die Ausbildungsrichtlinien einzubetten. In mehreren Lehrgängen wurden Sexualbegleiterinnen und Sexualbegleiter ausgebildet. Es gibt nun seit April 2009 die LIBIDA-SEXUALBEGLEITUNG®. Seit nun mehr als 12 Jahren kommen Frauen und Männer mit Behinderung nach Kalsdorf bei Graz in das Beratungszentrum von alphanova. Dort können sie mit Beraterinnen und Beratern über Sexualität, Beziehung und Behinderung reden. Sie können über Selbstbestimmung sprechen, über Wünsche und Sehnsüchte, über Ideen und Wege, diese zu erfüllen, über Aufklärung, und vieles andere. Aber es geht nicht nur ums Aufklären und Reden, sondern auch ums Erleben von achtsamen Berührungen in realen Begegnungen!
Das Angebot wird wie folgt gestaltet:
• gemeinsam nackt sein können und berühren
• Hilfestellung bei der Masturbation – sogenanntes „Hand-Anlegen“
Auch Gruppen können Workshops zu den Themen Sexualität, Beziehung und Behinderung buchen. Mehr dazu unter: www.libida-sexualbegleitung.at .
Verein Senia – Enthinderung von Sexualität (Oberösterreich)
Er ist federführend bei der Durchführung eines Kongresses zum Thema Sexualität und Behinderung sowie Sexualbegleitung und -assistenz. An dieser Stelle möchte ich Euch auch die Website des Vereins Senia – Enthinderung der Sexualität vorstellen: www.senia.at
Nina de Vries (Berlin)
Sie ist in Mitteleuropa schlechthin DIE Vorreiterin in Sachen Sexualassistenz/
Sexualbegleitung. Seit ca. sechzehn Jahren arbeitet sie als Sexualassistentin und bietet erotische, sinnliche Berührungen an. Über die Jahre hinweg zählten immer mehr schwerst körperlich behinderte Männer zu ihren Klienten und es hat sich ergeben, dass sie seit ca. dreizehn Jahren überwiegend mit mehrfach behinderten Männern (gelegentlich auch Frauen) arbeitet. Unter anderem durch jahrelanges Training in einer therapeutischen Gemeinschaft in Holland fühlt sie sich nach eigenem Empfinden durch und für diese Aufgabe/Tätigkeit gewachsen. Schwerpunkte dieses Trainings, in das viele buddhistische Elemente eingingen, waren Körperarbeit, emotionale Arbeit, Beziehungen, Sexualität - kurz gesagt: eine Schule in der Kunst, einfach ein Mensch zu sein. Nina de Vries wird Anfang Januar 2014 in Linz sein.
Mehr dazu und über meine sonstigen Angebote können meiner Homepage entnommen werden:
Netzwerk Quer-schnitt
DGKP Richard J. Schaefer
Dipl. Sexualberater/-pädagoge
Psychosozialer Krisenmanager
Scharitzerstrasse 2-4
A-4020 Linz/Donau
Tel.: 0043 (0) 676 9356144
Email:
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Richard Schaefer