Deutschland hat im Februar 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und ist mithin verpflichtet, die darin enthaltenen Verpflichtungen umzusetzen. Nach Artikel 24 dieser Konvention gewährleisten die Vertragsstaaten unter anderem „ … ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen …“ (Abs.1; die so genannte Schattenübersetzung benutzt insoweit den zutreffenderen Begriff des inklusiven Bildungssystems) und stellen sicher, dass „ Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden …“ (Abs.2, lit.a).
Dessen ungeachtet ist es aber nach wie vor ein Hindernislauf, ein behindertes Kind in der Regelschule unterzubringen! Die Clubpost führte mit einer Mutter, deren behindertes Kind im Herbst in die Regelschule gehen soll, ein Interview: Das Gespräch leitete Carola Walla. Familie Knorr besteht aus Vater, Mutter und der fast siebenjährigen Josefine (genannt Josi). Alle drei sind kleinwüchsig. Josi ist ein selbstbewusstes Mädchen, ein wahres Energiebündel. Ihre Eltern wollen sie in die Regelschule schicken, denn schließlich war sie auch schon im Regelkindergarten, doch dass das ohne Schwierigkeiten klappen würde, war ein frommer Wunsch.
Clubpost: Frau Knorr, warum war es überhaupt fraglich, dass Josi in die Regelschule geht?
Frau Knorr: Das weiß ich auch nicht so recht, da Josi außer ihrer Kleinwüchsigkeit keine Einschränkungen hat (sie hat auch noch einen Ventrikel-Shunt im Kopf, der aber keine weiteren Schwierigkeiten macht). Letztes Jahr wollten wir sie noch ein Jahr zurückstellen und da fing alles an. Bei der Schuleignungsuntersuchung, Josi war gerade mal 5 Jahre alt, hat sie teilweise die Aufgaben, die sie machen sollte, verweigert. Josi war müde, der Kindergarten hat tagsüber einen Ausflug gemacht. Die Ärztin hat sofort gesagt, ob sie nicht besser in eine Förderschule sollte. Wir haben daraufhin eingewandt, dass mein Mann und ich auch in der normalen Schule waren, dass wir unser Kind als gut entwickelt einschätzen und wir keine Förderschule wollen. Daraufhin folgte eine ganze Latte von Tests und Beurteilungen. In der Sprengelschule gab es ein „Screening“, wo die Kinder ausschneiden mussten, Formen erkennen, malen. Die Lehrerin wollte keine Rückstellung, Josi wird noch einmal zum „Schulspiel“ geladen. Das Ergebnis des „Schulspiels“: Das Kind ist willig, aber versteht die Fragen nicht. Die Schulpsychologin meint, das Kind entspricht nicht den Anforderungen, es soll in die Förderschule und ist erstaunt, dass die Eltern das Kind nicht längst in der Förderschule angemeldet haben. Die Rückstellung wird letztendlich bewilligt, die Bescheinigung bekommen wir allerdings auf Nachfragen erst am letzten Ferientag. Im nächsten Schuljahr, habe ich gleich im September Kontakt mit der Sprengelschule aufgenommen und mit der Schule, wo Josi schon in den angegliederten Kindergarten gegangen ist. Der Rektor der Sprengelschule hat einen Termin abgelehnt, das sei überflüssig bzw. verfrüht. Die Gastschule war aufgeschlossener und sie haben signalisiert, dass sie Josi, die sie ja schon von der Kindergartenzeit kannten, aufnehmen würden.
Clubpost: Warum geben Sie Josi nicht einfach in eine Förderschule, das wäre für Sie doch viel bequemer?
Frau Knorr: Erstmal wäre das Kind tagsüber so lange weg: Schon die Busfahrten dauern sehr lang. Die Zukunfts- und Berufschancen wären erheblich schlechter, außerdem wäre Josi da unterfordert. Sie soll mit gleichaltrigen, nichtbehinderten Kindern aufwachsen, da lernt sie sich auch durchsetzen, so ein Schonraum ist gar nicht gut. Gerade für behinderte Kinder ist es um so wichtiger, die sozialen Kontakte im Wohnumfeld zu fördern und aufrecht zu erhalten. Josi soll Zeit haben, mit den Kindern aus dem Wohnumfeld zu spielen, später sich auch selbst zu verabreden. Dies wäre in einer Förderschule nur bedingt möglich, da die Schulkinder aus ganz München kommen. Ein weiterer Punkt wäre, dass Josefine auch in einer Förderschule eher eine „Seltenheit“ wäre, denn es gibt wenige kleinwüchsige Kinder in ihrem Alter. Mein Mann und ich haben selber auch diese Erfahrung gemacht, wir waren damals noch in der DDR auf normalen Schulen. Andere Kleinwüchsige, die wir kannten, die in Sondereinrichtungen waren, hatten immer Probleme und auch keine normale Arbeit bekommen. Josi hat ja auch nichtbehinderte Freunde, in einer Gruppe nur mit Behinderten ist man immer gleich abgestempelt und kann sich schlechter als Einzelperson behaupten.
Clubpost: Die UN-Konvention, die vom Bundestag und den Ländern ratifiziert wurde, garantiert das Recht auf inklusive Schulbildung!?
Frau Knorr: Das würde bedeuten, dass der Regelschulbesuch von Josi ganz unproblematisch ist? Das hat sich aber noch nicht herumgesprochen. Weder die Schulbehörden, noch die Schule oder der Hort , haben das unterstützt, v.a. ist nicht klar, welche konkreten Maßnahmen daraus folgen müssten. Überall hören wir, dass behinderte Kinder Mehrarbeit bedeuten.
Clubpost: Was brauchen Sie für Josi und sich, was benötigen auch andere Eltern?
Frau Knorr: Ich fände es nicht schlecht, wenn es einen Leitfaden für Eltern mit behinderten Kindern gäbe, wo sie erfahren, was sie berücksichtigen müssen, was ihre Rechte sind. Wichtig ist auch, dass mit dem Mobilen sozialpädagogischen Dienst rechtzeitig geklärt würde, welche Hilfsmittel benötigt werden und die dann auch beschafft werden. Die Schulen sollten rechtzeitig gesprächsbereit sein und auch von vorneherein signalisieren, dass sie das Kind aufnehmen möchten und nicht nur Hindernisse sehen, sondern auch den Gewinn, den ein behindertes Kind in der Schule mit sich bringt. Sie sollten auch das Schachteldenken aufgeben, bei dem sie jedes Kind in eine Schublade pressen wollen. Für die Lehrer wäre mehr Information und Weiterbildung auf diesem Gebiet nötig (an der Uni gibt es dazu schon zahlreiche Angebote). Diese Durchtestung, die Josi durch gemacht hat, ist doch auch unmenschlich und sagt nicht immer etwas über ihr Können aus (Im neuen Schuljahr wurden die selben Tests an beiden Schulen noch einmal durchgeführt) Defizite sind immer nur Grund zur Aussonderung und nie Grund dazu, Hilfe in der Regelschule zu organisieren. Bei der Nachmittagsbetreuung in der Schule sollte auch im Stundenplan Raum vorgesehen werden, damit die behinderten Kinder nicht zusätzlich zu Therapeuten gehen müssen. Denn die behinderten Kinder leisten auch in dieser Zeit etwas und haben weniger Zeit einfach nur mit Freunden zu spielen. Die Ferienbetreuungen sollten selbstverständlich behinderte Kinder mitnehmen. Es gibt ein paar Veranstalter, die das machen, es sind aber immer noch zu wenig.
Clubpost: Was müsste die Schulbehörde tun?
Frau Knorr: Die sachlichen Voraussetzungen für behinderte Kinder müssten geschaffen werden, z.B. sind ganz viele Schulgebäude gar nicht barrierefrei! Das Kultusministerium, das ich auch angesprochen habe, reagierte überhaupt nicht, auch das Schulreferat hat zwar jemanden geschickt, aber letztlich doch auf andere verwiesen. Bei der Gastschule, die sich selber als ziemlich offen gezeigt hat, war aber das Problem, dass die Hortleiterin (Herr und Frau Knorr arbeiten beide) gesagt hat, Förderkinder nimmt sie sowieso nicht und Gastschulkinder haben keine Chance, weil genügend Sprengelkinder einen Hortplatz brauchen. Damit hätte sie soviel Schreibarbeit, ich, die Mutter, sollte mich so richtig schlecht fühlen. Es gibt aber niemanden, der der Hortleitern sagt, die behinderten Kinder gehören genauso dazu. Außerdem ist noch das Problem, dass Gastkinder auf der Warteliste sowieso ganz hinten stehen. Wir hätten unser Kind aber auch gerne auf die Sprengelschule geschickt, wenn wir dort nicht so unwillkommen gewesen wären.
Clubpost: Sie haben sich jetzt also entschieden, Josi in die Gastschule zu schicken?
Frau Knorr: Ja, wir haben uns jetzt entschieden, Josi in die Gastschule zu schicken., Die Schulleitung ist viel aufgeschlossener, als in der Sprengelschule, wir hätten Josi gerne in die Sprengelschule geschickt, denn erstens hätte sie den Schulweg allein gehen können, jetzt müssen wir immer fahren, außerdem geht ihre Freundin auch in die Sprengelschule. Da ich keinen Hortplatz bekommen habe und die Mittagsbetreuung nur bis 14.30 Uhr geht, werde ich meine Arbeitszeit reduzieren, dann schaffe ich das. Aber die Ferienbetreuung ist ohne Hort nicht geregelt. Das müssen wir dann immer extra organisieren. Das wird wieder ein ziemlicher Kraftakt, da wir weder Großeltern oder andere Verwandte in der Nähe haben, die Josi betreuen könnten. So hoffen wir rechtzeitig alles organisiert zu haben und auch genügend freie Plätze vorhanden sind. Aber seit wir uns entschieden haben, ist von uns allen eine Riesenlast abgefallen. Josi ist happy. Sie hat dort Freundinnen, kennt die Leute, kennt den Hausmeister, der ganz unkompliziert und hilfsbereit ist und schon einmal eine kleinere Toilette einbaut, da fühlt sie sich aufgehoben.
Clubpost: Liebe Frau Knorr, haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch, wir wünschen Ihrer Familie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen haben und für Josis Schulzeit alles Gute!
Haben auch Sie im Zusammenhang mit der Einschulung Ihres behinderten Kindes in die Regelschule oder bereits beim Besuch eines Regelkindergartens durch Ihr Kind Schwierigkeiten gehabt? Oder klappte alles reibungslos? Schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen, die Reaktionen der zuständigen Behörden und wie Ihr Bemühen behandelt wurde!
Carola Walla