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Der Bahnverkehr und Personen mit Behinderungen bzw. eingeschränkter Mobilität


Die letzten Bundestagswahlen sind nur wenige Wochen her und es ist unschwer nachzuvollziehen, dass ein solches Ereignis gravierende Auswirkungen auf die Gesetzgebungsaktivität des Bundestags hat: gegen Ende der Legislaturperiode werden üblicherweise keine größeren Gesetzesvorhaben mehr auf den Weg gebracht und nach den Wahlen muss die gesamte Maschinerie erst wieder richtig in Gang kommen. So verwundert es auch nicht, dass seit September 2009 keine für diese Kolumne relevanten Gesetze verabschiedet wurden. Rechtsakte mit Gesetzescharakter werden jedoch in Deutschland schon seit langer Zeit nicht nur vom Bundestag erlassen, sondern auch von europäischer Seite. So trat jetzt am 03.12.2009 die bereits vor zwei Jahren veröffentlichte Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr in Kraft (ABl. der Europäischen Union vom 03.12.2007 L 315, S. 14 ff.).
Auf den ersten Blick scheint ein solcher Rechtsakt überflüssig und hier im Übrigen nicht relevant, da ja bereits im Sommer ein Bundesgesetz mit einer ähnlichen Thematik erlassen wurde und wegen des allgemein gehaltenen Titels zudem keine behindertenspezifische Bedeutung zu erwarten sein dürfte. Zum einen erfolgte am 26. Mai 2009 der Erlass des deutschen Gesetzes jedoch nur zur Anpassung der bestehenden innerstaatlichen eisenbahnrechtlichen Vorschriften an die obige Verordnung (Bundesgesetzblatt 2009 Teil I, BGBl. I 2009 vom 29. Mai 2009, S. 1146 ff.), zum anderen ergibt eine Durchsicht der Vorschrift, dass das gesamte Kapitel V der Verordnung mit insgesamt sieben Artikeln (Art. 19 – 25) Personen mit Behinderungen bzw. eingeschränkter Mobilität gewidmet ist, ohne dass in dem erwähnten Bundesgesetz eine Entsprechung zu finden wäre. Ein genauerer Blick auf die einzelnen Vorschriften lohnt sich also doch.

Welche Rechte haben Personen mit Behinderungen/eingeschränkter Mobilität nach der Verordnung?

Beim ersten Durchlesen scheint die Verordnung geradezu ein Füllhorn an Rechten zu beinhalten: Artikel 19 Absatz 1 sieht zunächst die Erstellung nicht diskriminierender Zugangsregeln für Personen mit Behinderungen/eingeschränkter Mobilität vor, Artikel 19 Absatz 2 gewährt einen grundsätzlichen Anspruch auf Beförderung, und zwar ohne Aufpreis, Artikel 21 verpflichtet zur Herstellung der Zugänglichkeit von Bahnhöfen und sonstigen Einrichtungen für diesen Personenkreis und die Artikel 22 und 23 schreiben Hilfeleistungen an den Bahnhöfen und im Zug vor. Darüber hinaus korrespondiert mit den solchermaßen eingeräumten Rechten ein Informationsanspruch von Personen mit Behinderungen/eingeschränkter Mobilität betreffend Zugangsregeln, Ausstattung der Fahrzeuge und Zugänglichkeit (Artikel 20 Absatz 1) und neben dem Ergreifen von Maßnahmen, um Meldungen des Hilfsbedarfs entgegennehmen zu können, ist auch die Festlegung besonderer Punkte innerhalb und außerhalb des Bahnhofs vorgesehen, an denen Hilfe angefordert werden kann (Artikel 24).
Wenn die Verordnung das Erbringen von Hilfeleistungen unter den Vorbehalt der vorherigen Anmeldung (und zwar mindestens 48 Stunden vor Bedarf) stellt und bei nicht erfolgter oder zu kurzfristiger Meldung die Pflicht zur Hilfeleistung auf ein bloßes Bemühen reduziert, so erscheint dies vernünftig oder zumindest hinnehmbar. Bei jährlich ca. acht Milliarden Bahnreisenden geht die Möglichkeit der Berücksichtigung besonderer Bedürfnisse naturgemäß auch mit der Notwendigkeit einher, sich darauf personell und logistisch einstellen zu können. Im Übrigen gilt im Flugverkehr innerhalb der Europäischen Union bei der Anmeldung von Hilfsbedarf die gleiche Frist (siehe die Besprechung der entsprechenden EU-Verordnung in dieser Zeitschrift).
Weniger nachvollziehbar wirkt jedoch bei näherem Hinsehen, wenn sich viele der erwähnten Rechte relativieren oder diese ausdrücklich eingeschränkt werden. So besteht bei Zügen oder Bahnhöfen ohne Personal lediglich die Verpflichtung, sich darum zu bemühen, eine Fahrt zu ermöglichen, in den Zügen ist zwar ein Hilfeleisten vorgesehen, dieses wird aber bloß als Bemühen nach besten Kräften definiert und auch der Anspruch auf Beförderung steht unter dem Vorbehalt der Einhaltung der aufzustellenden Zugangsregeln.
Wenn schließlich von kostenlosen Hilfeleistungen an Bahnhöfen und im Zug oder Fahrkarten ohne Aufpreis gesprochen wird, stellt sich zudem die Frage, ob dann nicht auch konsequenterweise das Anmelden konkreten Hilfsbedarfs kostenfrei ausgestaltet sein muss, also ohne gebührenpflichtige Rufnummern von Mobilitätszentralen.
Alles in allem wird man daher sagen können, dass das in der Verordnung enthaltene Regelwerk betreffend Personen mit Behinderungen und eingeschränkter Mobilität ein positiver Schritt ist – aber auch nur ein erster Schritt, um diesem Personenkreis eine volle Freizügigkeit zu ermöglichen.

We kann ich meine Rechte geltend machen?

Sollten die in der Verordnung vorgesehenen Pflichten nicht eingehalten werden, so besteht die Möglichkeit, Beschwerde bei der Eisenbahnaufsichtsbehörde einzulegen (im Regelfall beim Eisenbahn-Bundesamt, das aber gegebenenfalls die Beschwerde an eine anderweitig zuständige Eisenbahnaufsichtsbehörde weiterleitet), über die dann grundsätzlich innerhalb eines Monats eine mit Gründen versehene Entscheidung zu ergehen hat.

Darüber hinaus kann jeder Fahrgast durch Beschwerde auch einen mutmaßlichen Verstoß gegen die Verordnung geltend machen.

Wann tritt die Verordnung in Kraft?

Es wurde eingangs erwähnt, dass die beschriebene Verordnung am 03.12.2009 in Kraft getreten ist, also in allen Mitgliedstaaten verbindlich ist und unmittelbar gilt. Das ist aber so nur eingeschränkt richtig: nach Artikel 2 können die Mitgliedstaaten in einer Reihe von Fällen für bis zu fünfzehn Jahre eine Ausnahme von der Anwendung der Bestimmungen der Verordnung verlangen, generell oder auf bestimmte Bereiche beschränkt, wie beispielsweise den Stadt- oder Regionalverkehr. Nach Angaben der EU-Kommission hat Rumänien einen solchen Antrag bereits gestellt. Es bleibt daher abzuwarten, wann die geschilderten Rechte auch allgemeiner Standard in allen 27 Mitgliedstaaten sein werden.

Wolfgang Vogl