Als Xaver Freimuth vor 82 Jahren geboren wurde, gab es in den Dörfern des Bayerischen Waldes noch viele arme Leute – junge Menschen ohne Arbeit, Kinder, die nicht genug zu essen hatten, und Familien, die nach Amerika auswanderten, um der Not zu entfliehen. Der kleine Xaverl war glücklicherweise kein armer Waldbauernbub. Im Gegenteil, die Freimuths hatten in Teisnach, einem aufstrebenden Ort, der heute mit Wellness- Hotels und dem Naturpark „Bayerischer Wald“ um Touristen wirbt, eine Eisen-, Bauwaren- und Kohlenhandlung, die den ganzen Umkreis belieferte. Damit zählten sie zu den Honoratioren des Marktfleckens.
Xavers Vater war auf einem Bauernhof groß geworden. Die Eisenhandlung hatte er erst 1911 erworben. Wenige Jahre - und sein Geschäft blühte. Zäh und ausdauernd hatte er sich zu den Höhen der Teisnacher Oberschicht hinaufgearbeitet. Er war aber nicht nur ein geschickter Geschäftsmann, sondern auch von imposanter Statur, Xavers mit kindlicher Liebe bewundertes Vorbild. Wenn man den Kleinen fragte, was er denn später werden wolle, antwortete er: „Babba“! Das heißt - ein ebenso stattlicher, wichtiger Geschäftsmann wie der Vater, einer, der so souverän mit den Kunden umgeht und so viel Ansehen im Ort genießt.
Der Vater besaß auch ein Auto, einen „Adlerwagen“, groß, elegant und dunkelgrün lackiert, mit dem er bei offenem Verdeck ausfuhr. An der Kirche vorbei und hinaus in die Waldberge, am Regen entlang bis nach Cham, Viechtach, Straubing und wieder zurück. Xaver durfte gelegentlich mitfahren. Zuverlässig schnurrte der Motor des schweren Wagens und der Wind sauste in den Haaren. Der Vater erlaubte ihm an einem Knopf zu drehen, der am Armaturenbrett befestigt war und keine Funktion hatte. „Da konnst’s Auto lenkn mid mir“, sagte er und der Siebenjährige drehte am leerlaufenden Knopf - ein großer Wagenlenker. Damals gab es wohl kaum mehr als 6 Autos in Teisnach: Der Arzt hatte eins, der Papierfabrikant auch und der Brauereibesitzer natürlich. Aber in keinem anderen Auto saß so ein stolzer kleiner Bub, der verantwortungsvoll chauffierte.
Als Xaverl neun Jahre alt war, starb der Vater. Die Mutter musste sich nun allein um die sechs Kinder kümmern und auch ums Geschäft. Xaver, den einzigen Buben, schickte sie ins Internat nach Fürstenstein und anschließend nach Passau in die Realschule. Damit hat er eine weitaus bessere Schulbildung erhalten als die meisten seiner Altersgenossen im Bayerischen Wald.
Daheim bereitete sich die große Schwester inzwischen auf die Übernahme der Eisenhandlung vor und aufs Heiraten – es musste ja schließlich wieder ein Mann ins Haus. Und so geschah es.
Nach der Schule trat Xaver dann tatsächlich in die Fußstapfen des Vaters – er bekam eine Lehrstelle in einer Eisenhandlung. Das war 1942 und Deutschland befand sich im Krieg. Xaver konnte seine Lehrzeit gerade noch abschließen, dann haben sie ihn zum Militärdienst einberufen - und gleich wieder ausgemustert, weil er so lang und dürr gewesen ist. Ein Familienerbe der Freimuths – alle waren sie große, schlanke Gestalten. Doch schließlich, als man immer jüngere Männer holte, um das Vaterland zu verteidigen, hat’s ihn doch erwischt: Er musste zu den Soldaten und wurde in einer Münchner Kaserne hinter der Infanteriestraße stationiert. Dort erlebte er das erste Mal einen Bombenangriff. Seine Abteilung hat es zwar nicht getroffen, aber so nah war ihm der Tod noch nie gewesen. Die letzten Monate des Krieges verbrachte er als Funker bei einer russischen Freiwilligen- Einheit in den italienischen Alpen. Als sie am Ende gefangengenommen wurden, kam er in ein Internierungslager auf dem Flugplatz von Brescia, am Fuße der Alpen. Im August 45 entließen sie ihn. „Wenn alle so glimpflich davongekommen wären wie ich, dann wär der Krieg ja beinah nur ein Spaziergang gwesn!“
Aber so leicht war die Zeit gar nicht. Nach dem Krieg war alles unsicher und die Menschen waren arm. Zurück in Teisnach, musste sich der 19jährige neu einrichten in seinem Leben. Als die große Schwester auch noch wegzog, konzentrierten sich die Hoffnungen auf ihn: „Da Xaverl machts scho“! sagten die Seinigen. Also kümmerte er sich um alles. Dann übernahm er die Geschäftsführung in der Eisenhandlung. Und er schaffte es: Vier Jahre – und die Geschäfte liefen solide. Er konnte sich den ersten Urlaub seines Lebens leisten – eine Busreise an den schönen Rhein.
August war es und das Wetter herrlich sonnenhell. Der Rhein ein breites, glänzendes Band. Da spazierte Xaver am Morgen nach der Ankunft an die Uferpromenade, setzte sich auf eine Bank. Er schaute auf den mächtigen und doch ruhig dahinströmenden Fluss, auf die weiche Uferlinie gegenüber und auf die Spaziergänger, die genau wie er selbst den leuchtenden Tag genossen, dahinschlenderten und es sich gut gehen ließen: Heitere Menschen, hübsche Mädchen. Unter ihnen zwei Freundinnen, die mit demselben Bus angekommen waren. Man erkannte und begrüßte sich. Die eine war schlank und dunkelhaarig, mit reizvoll geringelten, widerspenstigen Locken. Sie hieß Maria. Wie die andere ausgesehen hat, das hat Xaver vergessen, denn er hatte vom ersten Moment an nur Augen für Maria. Seine Maria. Sie war die Einzige, die Richtige, das wusste er. Als vollendeter Kavalier bot er sich an, die Jacken der beiden Damen in ihr Quartier zurückzubringen, denn die Sonne hatte die Luft inzwischen ordentlich aufgeheizt. „Und wie hat sich Eure Bekanntschaft dann weiterentwickelt? – Im Bus haben wir uns immer nebeneinander gesetzt, wenn’s gangen is!“. Aber danach – er lebte in Teisnach und sie in München. Wie sollte das Paar zusammenkommen? Man besuchte sich gegenseitig. Meistens fuhr er nach München, denn er hatte geschäftlich dort zu tun. Doch bis Xaver mit seiner Maria so einig war, dass er sie der Familie vorstellte, vergingen noch etliche Jahre. Die Freimuths waren ja schließlich jemand in Teisnach und da ging es nicht, dass Xaver mit einer Freundin aufkreuzte, mit der er nur ein gschlampertes Verhältnis hatte. Wenn er eine mitbrachte, dann musste es schon was Ernstes sein. Und damals ging’s auch nicht so schnell mit dem Zusammenleben und dem Heiraten.
Schließlich zog es Xaver auch beruflich nach München. Denn daheim wuchsen die beiden Kinder seiner älteren Schwester heran und sobald sie heiraten würden, so dachte er, würde sicherlich jemand anderer die Geschäfte in der Eisenhandlung übernehmen, und dann wäre er wohl überflüssig. So verließ Xaver Freimuth den Bayerischen Wald. Das Münchner Leben konnte beginnen!
Xaver erhielt eine Stelle bei einer Thyssen-Firma, wechselte ins Heizungsfach, eine Arbeit, die ihm, dem gelernten Eisenwarenspezialisten, zusagte. Das war im Jahr 1956. Auch privat ging es voran: Die beiden beschlossen, an Marias Elternhaus dranzubauen, um ein eigenes Heim zu haben. Dann heirateten sie. Ein schönes Paar! Beide hochgewachsen und gertenschlank, er blond, sie dunkelhaarig im weißen Kleid. Die Trauung fand im Grünwalder Kircherl statt. Man feierte in kleinem Kreis und gleich danach gingen sie auf Hochzeitsreise nach Salzburg und an den Fuschlsee. Das war der Auftakt zu vielen gemeinsamen Reisen, ein Leben lang: Denn die beiden waren unterwegs, wann immer es die Zeit und der Geldbeutel erlaubten. „Und wir haben uns nie, in unserem ganzen Leben nicht ein einziges Mal ernsthaft gestritten! – Das gibt es doch gar nicht, alle Paare streiten sich irgendwann einmal! – Nein, wir nicht!“, sagt Xaver energisch. Vielleicht ist er nur konfliktscheu oder so harmoniesüchtig, dass er einen Streit um jeden Preis vermeiden will? Nein, auch das nicht, denn mit der Schwiegermutter kam es zu Auseinandersetzungen, die so gravierend waren, dass sich Xaver mit seiner Maria abgesetzt hätte, wenn nicht schon der Anbau ans Haus der Schwiegereltern geplant gewesen wäre.
Aber Xaver war und ist eben doch ein von Grund auf gutmütiger, friedfertiger Mensch, genauso wie seine Maria. Und er hatte im Laufe seines langen Geschäftslebens Disziplin geübt und gelernt, sich verbindlich zu verhalten, schon weil damals der Kunde noch König war. Wir vom CBF können sein ausgleichendes Wesen übrigens bezeugen, denn es zeigte sich in der stets reibungslosen Zusammenarbeit, die der gemeinsamen Sache und nicht etwa Xavers mangelndem Selbstbewusstsein diente. Aber ich greife den Ereignissen voraus.
Das eigene Heim war fast fertig, da kam das erste Kind: Franzi, der Praktische. Dann Katrin, die künstlerisch Begabte, die schon als 10jährige durch ihr Zeichentalent auffiel. Auch zusammen mit den Kindern widmeten sich die Freimuths ausgiebig ihren bevorzugten Freizeitvergnügungen: Sie reisten, wanderten, genossen die Natur und trieben Sport: Schwimmen war für beide wichtig bis ins hohe Alter. Maria war außerdem eine passionierte Bergwanderin und sie war die beste Schifahrerin der Familie. Sie war überhaupt sehr unternehmungslustig - wild auf Neues und Vergnügliches - und Xaver folgte seiner geliebten Animateurin gern überall hin.
Dann kam der eine, so bedeutungsvolle Silvesterabend in den 60er Jahren. Den ganzen Tag schon leuchtete die Sonne fast frühlingshell vom Himmel. So als sei der Winter bereits vorbei. Sie zogen den Schlitten zum xten Mal durch den gleißenden Schnee hinauf auf den Hang. Maria wurde plötzlich ein wenig schwindlig und sie stolperte. Die kleine Katrin zerrte sie kichernd hoch und weiter ging’s. Die Schneekristalle glitzerten und blitzten. Noch einmal hinauf und hinunter. Der Schlitten stürzte um. Passiert war nichts. Aber da strauchelte Maria wieder. Offenbar war sie allmählich müde. Es wurde gleichwohl ein schöner Silvesterabend, und als man um Mitternacht hinaustrat in die weiße Welt, leuchteten die Sterne am wolkenlosen Himmel. Es würde ein gutes neues Jahr werden! Und tatsächlich, das Leben verlief gleichmäßig und angenehm heiter.
An einem Sonntag des folgenden Jahres, es war ein goldleuchtender Herbsttag, wollten sie wieder einmal hinauf zur Brecherspitze. Maria wie immer vornedran. Doch plötzlich – am schmalen Steig hinüber zum anderen Grat – blieb sie stehen und wagte sich keinen Schritt weiter. Die Beine versagten ihr, oder wars das Herz, oder der Mut? Sie war doch immer die Forsche gewesen, die sich alles getraut hat! Vielleicht sollte sie Einlagen tragen, meinte Xaver, wegen dieser Unsicherheit beim Laufen? Nein, das war es nicht. Nach einer Untersuchung in der Neurologischen Klinik in München war die Diagnose klar: Maria hatte MS, Multiple Sklerose. Was tun? Gab es Medikamente? Veränderte sich nun ihr Leben? Wie waren die Heilungschancen? Es gab keine Heilung. Man konnte nur hoffen, dass der Verlauf dieser fortschreitenden Krankheit gnädig sein würde. Was also tun? Weiterleben. Weiterleben wie immer. Bisher war ja alles ganz gut gegangen. Abgesehen von den Unsicherheiten, die Maria zwangen, langsamer zu laufen, sich gelegentlich stützen, im Haushalt helfen zu lassen, hatte sich nichts geändert. Neu waren die Menschen, die Maria und Xaver nun in einer MS-Selbsthilfe-Gruppe trafen. Ähnlich betroffen, unterstützten sie einander und informierten sich gegenseitig über mögliche Hilfen. Von ihnen erfuhren die Freimuths auch, dass es in München den CBF gab, den „Club Behinderter und ihrer Freunde“. In diesem Club kämpfte man vor allem für eine bessere Eingliederung behinderter Menschen. Wo konnte ein Rollstuhlfahrer in Münchens Innenstadt sein Auto parken? Wie gelangte er ins Kino, oder ins Theater, wenn sich vor dem Gebäude eine unüberwindliche Freitreppe hinaufschwang? Warum mussten behinderte Kinder in Sonderschulen gehen? Und so weiter. So kamen sie zu uns, die Freimuths, und arbeiteten mit. Vor allem in der Sparte, die ihnen die liebste war – in der Reise-Abteilung. Jetzt organisierten sie Ausflüge für den ganzen Club. Und sie fanden rasch Freunde, denn sie waren ein beliebtes Paar – gut aufgelegt und zu jeder Unternehmung bereit! Da kam der nächste Schlag: Katrin, ihre 16jährige Tochter erkrankte an Lupus erythematosus, einer schweren Immunkrankheit.
Wie reagierte das Kind, wurden die Schulleistungen schlechter? Fühlte sie sich als Verliererin, als Außenseiterin in der Klassengemeinschaft? Was tat sie? Weiterleben. Weiterleben, wie die Mutter auch, sich nicht die Freude am Leben verderben lassen! Als Katrin ihr Abitur geschafft hatte, schleuderte sie ihre Schultasche in die Ecke und fuhr nach Berlin. Was sie sich schon lange vorgenommen hatte. Berlin – die neu aufgeblühte Hauptstadt – da musste sie einfach hin! Pünktlich zur Abiturfeier war sie wieder zurück. So sind sie alle die Freimuths, abenteuerlustig und häuslich zugleich!
Doch da waren und blieben eben auch diese körperlichen Einschränkungen, dieses lästige Angewiesensein auf andere, diese gelegentliche Schwäche und Mutlosigkeit. Wer verkraftete die Behinderung besser, Mutter oder Tochter? Beide. Maria, die sich nicht aus der Ruhe bringen ließ, und Katrin, die gar nicht daran dachte, sich durch ihre gesundheitlichen Schwierigkeiten und mühselige Behandlungen an irgendetwas hindern zu lassen. Und so reisten sie wieder – Maria mit ihrem Xaver in warme Länder, wo man im Swimmingpool unter Palmen so wohlig plantschen und sich nachher von der Sonne wärmen lassen konnte. Und Katrin - nach ihrem Studium an der Berliner Kunstakademie - nach Indien. Zusammen mit ihrem Mann, im Wohnwagen. Ein halbes Jahr wollten die beiden bleiben. Zweieinhalb Jahre sind daraus geworden.
Im CBF wurde Xaver zum Kassenprüfer ernannt und war zuletzt auch für Inventar und Inventur zuständig. Mit seiner Genauigkeit und Sorgfalt der ideale Mann für diesen Job. Und wie gesagt, die Reisen, die er organisierte, die waren immer etwas Besonderes: Zu Audi nach Ingolstadt, in die Papierfabrik nach Plattling, zur Landesgartenschau in Ingolstadt – das waren Fahrten: lehrreich und vergnüglich zugleich. Und da die Mitglieder des CBF sich seit je einig waren, dass gutes Essen unverzichtbar zu einem gelungenen Ausflug gehört, suchte Xaver stets gewissenhaft nach einer gemütlichen Lokalität, wo man gediegen speisen konnte. Wobei schön anzuschauen war, welche Riesenportionen die beiden Freimuths verdrückten, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. Schlank und rank standen sie da, Maria am Arm ihres Xaver. Denn so eingehängt, konnte sie mit unsicheren Schritten und doch leichtfüßig den Raum durchqueren. Einen Rollstuhl brauchte sie nur für weitere Spaziergänge. Auch daheim bei der Hausarbeit gab es keine Probleme. Xaver kümmerte sich um den Garten. Maria kochte, wenn er die Zutaten zurechtgelegt hatte, und er schnipselte nebenbei den Salat. Zweimal in der Woche gingen sie ins Schwimmbad. Eisern.
Vor drei Jahren bereiteten die beiden ihre letzte CBF-Fahrt vor – an den Bodensee, zur Apfelbaumblüte. Doch sie selbst konnten nicht mehr daran teilnehmen. Xaver wurde mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert. Heute geht es ihm wieder gut.
Zu ihrem 50sten Hochzeitstag wünschte Maria sich noch einmal eine richtig schöne Reise, etwas, was sie noch nie gemacht hatten. So entschlossen sich die beiden zu einer Kreuzfahrt im Mittelmeer. Sie genossen den ununterbrochenen Reigen von Bord-Vergnügungen in vollen Zügen. Und keinen Landgang haben sie ausgelassen, wie schaukelnd und schwankend die Überfahrt auch gewesen ist. Kurz danach wurde Maria ins Krankenhaus eingeliefert, wo ihr Leben leise zu Ende ging. Sie hatte sich immer gewünscht, vor ihrem Xaver zu sterben. Denn er würde alleine gut zurechtkommen. Sie nicht.
Bei Xaver Freimuth läuft das Leben nun etwas langsamer. Wie Maria es vorhergesagt hatte, kann er gut selber für sich sorgen. Seine Funktionen im Club hat er aufgegeben. Doch zu unseren Veranstaltungen erscheint er nach wie vor – ein hochgewachsener, gut aussehender älterer Herr, freudig begrüßt von der alten Mannschaft, geschätzt von den neu Hinzugekommenen.
Ingrid Leitner
CBF-Mitglieder – ihr Leben und ihr Clubleben -- Xaver Freimuth – Porträt eines sanften Unbeugsamen
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