Herbstfest am 24.11.2024 - Kommt alle! meldet euch an! Einladung hier.
"Unschädlich wie Zuckerplätzchen" lautete die Werbung für das Medikament Contergan noch 1957. Mitarbeiter des Pharmaunternehmens Grünenthal aus Stolberg bei Aachen hatten auf der Grundlage des Wirkstoffes Thalidomid ein Wunderschlafmittel entwickelt, das nicht nur eine jähe Schlafbereitschaft auslöste, sondern sich auch zur Behandlung der typischen morgendlichen Schwangerschaftsübelkeit in der frühen Schwangerschaftsphase eignete. Zudem war angenommen worden, dass das Medikament keine Nebenwirkungen habe und sich daher insbesondere für Schwangere empfehle.


Ein tragischer Trugschluss: im November 1961 verdichten sich Berichte über einen Zusammenhang der Einnahme des Medikaments Contergan mit der späteren Geburt missgebildeter Kinder derart, dass sich die Firma Grünenthal gezwungen sieht, das Medikament vom Markt zu nehmen.
Die Angaben über die Anzahl der aufgrund der Einnahme von Contergan geschädigten Kinder variieren: nach Informationen des Bundesverbands Contergangeschädigter handelt es sich um etwa 5.000 Fälle, nach anderen Angaben um zwischen 10.000 und 12.000, davon allein zwischen 4.000 und 5.000 in Deutschland, wovon allerdings ca. die Hälfte zwischenzeitlich verstorben ist.

Die Firma Grünenthal, die auf ihrer Website lediglich in zwei kurzen Absätzen den Verlauf des Contergan-Skandals schildert, macht die rechtliche und medizinische Komplexität dafür verantwortlich, dass erst im Januar 1968 ein Strafverfahren vor dem Landgericht Aachen gegen verantwortliche Mitarbeiter der Firma Grünenthal und deren Inhaber eröffnet wurde, andere Quellen führen dies auf ein Taktieren und Verschleppen durch die Firma Grünenthal selbst zurück. Im Dezember 1970 wird das Strafverfahren schließlich nach Zahlung von 100 Millionen DM wegen geringfügiger Schuld eingestellt. Ob und inwieweit die Firma Grünenthal Einfluss auf Verlauf oder Ausgang des Verfahrens genommen hat, sei hier dahingestellt, auch ein juristisch nicht geschulter Betrachter muss sich jedoch die Frage stellen, wie eine geringfügige Schuld dann doch schon 1970 die Zahlung eines Betrages von immerhin 100 Millionen DM generieren konnte.

Erst 1976 wurde dann eine Fassung des Arzneimittelgesetzes erlassen, das erstmals ein geregeltes Zulassungsverfahren für neue Medikamente einführte sowie detaillierte Vorschriften bezüglich der klinischen Erprobungsverfahren und eine Haftungsregelung bei Arzneimittelschäden enthielt. Soweit die Fakten.

Wenn man sich Medienproduktionen der vergangenen Jahre ansieht -  "Die Flucht" über die Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten am Ende des Zweiten Weltkriegs, die Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945 oder die Flucht bzw. die Ausreise aus der ehemaligen DDR in verschiedenen Varianten - dann verwundert es kaum, dass auch die traurigen Ereignisse um das Medikament Contergan medial aufbereitet wurden: der Zweiteiler "Eine einzige Tablette" wurde bereits im Januar 2006 im Auftrag des WDR von der Firma Zeitsprung produziert und sollte im Herbst 2006 ausgestrahlt werden. Dabei handelt es sich nach eigenen Angaben um eine "Tele-Fiction", also einen Spielfilm und keinen Dokumentarfilm. Allerdings heißt auch im Film das betreffende Medikament Contergan und die vertreibende Firma Grünenthal aus Stolberg bei Aachen und die handelnden Protagonisten haben verblüffende Ähnlichkeiten mit denjenigen der wahren Geschichte, aber eben doch nicht komplett.

Und genau an diesen Abweichungen setzen sowohl die Firma Grünenthal als auch der seinerzeitige Anwalt der Opfer an: wegen Falschdarstellung, Verdrehung, Herabwürdigung und Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte beantragen und erreichen beide im März 2006 im Wege einer einstweiligen Verfügung beim Landgericht Hamburg, dass die Ausstrahlung des Zweiteilers untersagt wird. Nachdem diese Einstweilige Verfügung durch Urteil vom Landgericht Hamburg im Juli 2006 bestätigt wurde, hebt das OLG Hamburg das Verbot im April 2007 größtenteils auf. Gegen das Urteil des OLG Hamburg erheben die Firma Grünenthal und der Opferanwalt dann Verfassungsbeschwerde und stellen darüber hinaus im Hinblick auf die für 7./8. November avisierte Ausstrahlung des Zweiteilers einen Eilantrag, die Ausstrahlung zu untersagen. In seinem Beschluss vom 29. August lehnt das Bundesverfassungsgericht letzteren ab, da es zu dem Ergebnis kommt, die der Rundfunkanstalt bei einem Verbot der Ausstrahlung drohenden Nachteile überwiegen diejenigen der Firma Grünenthal und des Opferanwalts bei Ausstrahlung.

Auch wenn das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerden nach eigenen Angaben erst noch entscheidet, deutet sich doch bereits die darin wohl voraussichtlich verfolgte Richtung an, wenn es in der Ausstrahlung des Films keineswegs eine schwerwiegende Beeinträchtigung von Persönlichkeitsrechten sieht. Als Thomas Mann seinen grandiosen Roman "Die Buddenbrooks" schrieb, erkannten sich viele aus der Lübecker Gesellschaft zu ihrem eigenen Missfallen in Figuren des Romans wieder, ebenso wie die Romane "Esra" von Maxim Biller und "Mephisto" von Klaus Mann wegen ihrer Parallelen zu Personen aus dem wirklichen Leben zum Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen wurden. Fiktion stellt sich oft als Ver- oder Aufarbeitung von wirklich Erlebtem dar und muss daher häufig mit (verfassungsmäßigen) Rechten anderer in Einklang gebracht werden - auch bei Geltung uneingeschränkter Kunstfreiheit. Dies soll uns aber nicht daran hindern, den für 7./8. November zur Ausstrahlung in der ARD vorgesehenen Film über den Contergan-Skandal anzusehen und aufmerksam zu begleiten.

Wolfgang Vogl