Wer auch nur oberflächlich die Zeitungs- und Fernsehnachrichten verfolgt, für den scheint sich ein eindeutiges Bild zu ergeben: während vom Landgericht Potsdam zwei der gefährlichen Körperverletzung an dem dunkelhäutigen Deutsch-Äthiopier Ermyas Mulugeta und der unterlassenen Hilfeleistung Angeklagte aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden, greifen Rechtsextreme ein von einer Premierenfeier heimkehrendes Theaterensemble in Halberstadt tätlich an und die Polizei muss sich in beiden Fällen Versäumnisse vorwerfen lassen. Angesichts rechter Parteien in drei ostdeutschen Landtagen und der letztendlich immer noch nicht überzeugenden Widerlegung des vom ehemaligen Regierungssprecher Heye geprägten, seinerzeit viel Empörung auslösenden Begriffs der „No-go-areas“, liegt der Schluss nahe, dass weite Landstriche der so genannten Neuen Bundesländer nicht mehr zu retten seien, wie in Fernsehinterviews mit Bezug auf die Ereignisse von Halberstadt bereits formuliert wurde.
Vor diesem Hintergrund scheint es sich bei dem Angriff auf Noel Martin lediglich um ein weiteres Beispiel fremdenfeindlicher Exzesse zu handeln, wenn auch mit extremen Folgen: der aus Jamaika stammende, in Birmingham als Bauarbeiter tätige Noel Martin kommt in den Neunziger Jahren, zusammen mit ca. 80.000 weiteren Bauarbeitern aus Irland und Großbritannien nach Ostdeutschland. Im Juni 1996 wird der damals 37jährige Martin zusammen mit zwei Kollegen im brandenburgischen Mahlow zunächst angepöbelt und dann im Pkw verfolgt. Als die Täter einen Stein in ein Fenster des Wagens von Noel Martin werfen, verliert dieser die Kontrolle über sein Fahrzeug, überschlägt sich mehrmals und prallt schließlich gegen einen Baum. Nach wochenlangem Koma wacht Noel Martin auf, bleibt aber vom Hals abwärts querschnittsgelähmt. Noel Martin spürt weder Hunger, noch Schmerz oder Berührung. Da er keine Muskelkraft besitzt, gehorchen seine Muskeln auch seinem Willen nicht und er muss sich rhythmisch gegen den Bauch schlagen lassen, wenn er husten möchte oder Blase und Darm entleeren lassen. Nach dem Angriff wurde Noel Martin zunächst von seiner Lebensgefährtin Jacqueline Shields gepflegt, diese erlag im Jahr 2000 jedoch einem Krebsleiden, nachdem sie Martin zwei Tage vor ihrem Tod heiratete. Noel Martin engagierte und engagiert sich vor und nach dem Tod seiner Lebensgefährtin/Frau gegen Fremdenfeindlichkeit, reist im Jahre 2001 nach Mahlow und initiiert im selben Jahr auch den Jacqueline-und-Noel-Martin-Fonds, der den Austausch von Jugendlichen aus Birmingham und der Region Brandenburg fördert und für den das Land Brandenburg Geld gibt. Darüber hinaus hat Noel Martin sein Leben in dem Buch „Nenn es: mein Leben“ beschrieben, das im von Loeper Verlag erschienen ist und vom brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck im April 2007 vorgestellt wurde.
Aufsehen erregte Noel Martin zuletzt jedoch nicht primär wegen seines unermüdlichen und bewundernswürdigen Engagements, sondern wegen der im Sommer 2006 erfolgten Ankündigung, an seinem 48. Geburtstag im Juli diesen Jahres mit Hilfe der Schweizer Organisation Dignitas durch Freitod aus dem Leben zu scheiden, indem er sich in die Schweiz begeben und dort ein Gift injizieren lassen werde. Noel Martin hatte sich nach dem Unfall eine Frist von zehn Jahren gesetzt, nach der er entscheiden werde, ob er weiterleben wolle und sei jetzt zu dem Entschluss gekommen, den Freitod zu wählen. Zwar wurde der Termin zwischenzeitlich verschoben, da Noel Martin noch einige bürokratische Dinge erledigen muss, wie etwa die Verwendung seines Vermögens nach seinem Freitod für Bildungsprojekte für schwarze Kinder in Afrika und Jamaika, die grundsätzliche Entscheidung für den Freitod wurde aber, soweit ersichtlich, keinesfalls revidiert.
Angesichts der soeben geschilderten Geschichte von Noel Martin verbietet sich meiner Ansicht nach jedes Urteil, ja jede Belehrung gleich welcher Art. Die Entscheidung von Noel Martin, wie immer man zu ihr auch stehen mag, verdient vielmehr uneingeschränkten Respekt, vorausgesetzt sie ist das Ergebnis einer freien Entscheidung.
Wolfgang Vogl
Nenn es: mein Leben
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