zur Triage vom 16.12.2021

 

Als Anfang 2020 erst vereinzelte Fälle von Corona in Europa auftraten und dann die Krankheit unser gesamtes Leben zu bestimmen begann, war vieles, was heute alltäglich ist, noch exotisch. Gesichtsmasken kannten wir nur von asiatischen Touristen und Quarantäne nur aus den mittelalterlichen Erzählungen über die Pest. Ähnlich ging es uns, als im März 2020 Zeitungen berichteten, die italienische Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimations- und Intensivmedizin (SIAARTI) habe Triage-Empfehlungen für Intensivmediziner veröffentlicht.  Triage? Kaum einer wird sich davor mit der Bedeutung dieses Wortes näher auseinandergesetzt haben, aber eine Recherche im Internet förderte ein  erschreckendes Ergebnis zutage: „… ein nicht gesetzlich kodifiziertes … Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistung bei unzureichenden Ressourcen, zum Beispiel aufgrund einer unerwartet hohen Anzahl an Patienten.“ (aus dem Eintrag „Triage“ bei Wikipedia). Priorisierung medizinischer Hilfeleistung? Unzureichende Ressourcen? Das waren im Frühjahr 2020 für unser an die Allmacht des wissenschaftlichen Fortschritts und an die Unerschöpflichkeit der vorhandenen Mittel gewöhntes Denken inakzeptable Begrifflichkeiten. Der weitere Verlauf der Corona- Pandemie in Deutschland und den europäischen Nachbarländern sollte uns eines Besseren belehren.


 Wie aus dem Wikipedia-Eintrag ersichtlich ist, leitet sich der Begriff „Triage“ vom französischen Verb trier ab, also sortieren, aussuchen, auslesen. Er hat seinen Ursprung in der Militärmedizin, die zunächst bei kriegerischen Auseinandersetzungen nach Kriterien suchte, ob und wie bei einer Vielzahl von unterschiedlichsten und die Behandlungskapazitäten übersteigenden Verletzungen zu verfahren war. Nach und nach wurde der Begriff auch auf andere Sachverhalte mit einer Vielzahl von Verletzten angewandt, wie Naturkatastrophen oder Schiffsunglücke. So verwundert es wenig, dass die bei einer Triage vorzunehmende Abwägung nicht nur in besonders von Corona betroffenen Gebieten diskutiert wurde, sondern, in Anbetracht des nicht absehbaren Verlaufs der Pandemie, auch in Deutschland. Eine Triage, also das Behandeln des Einen zulasten einer Behandlung des Anderen stellt immer eine äußerst heikle Entscheidung dar. Besonders brisant ist sie dann, wenn eine der behandlungsbedürftigen Personen ein Mensch mit Behinderung ist. Besteht dann die Gefahr, dass die Behinderung sich zu dessen Ungunsten in einer Triage-Entscheidung auswirkt? Mit großer Sorge beobachtet der Behindertenbeirat der Landeshauptstadt München seit 2020 die Lage in Deutschland und hat sich immer wieder mit dieser Frage auseinandergesetzt, zuletzt in der Podiumsdiskussion der Vollversammlung im Oktober 2021 und  

 

 

 

in einem offenen Brief des Vorstands vom November 2021 (nachzulesen unter www.behindertenbeirat-muenchen.de Aktuell).

Dass er mit seinen Bedenken nicht allein ist, zeigen eine Reihe von Verfassungsbeschwerden, die im Juni 2020 mehrere behinderte Beschwerdeführer gestellt haben. Darin rügen sie, dass der Gesetzgeber es bisher unterlassen habe, eine Triage-Entscheidung gesetzlich zu regeln und so sicherzustellen, „dass nach überprüfbaren Kriterien entschieden werde, sie nicht benachteiligt würden und schlimmstenfalls wenigstens Rechtsschutz eröffnet sei.“ (Beschluss vom 16.12.2021, Randziffer 23).  

 

Diese Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluss vom 16. Dezember 2021 nunmehr für begründet erachtet. Danach wurde Art.3 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) verletzt, weil es der Gesetzgeber unterlassen hat, im Falle einer Triage die zu treffende Entscheidung in einer Weise zu regeln, dass eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen ausgeschlossen ist. Im Einzelnen verdichtet sich der Schutzauftrag des Art.3 Absatz 3 Satz 2 GG nach Auffassung des BVerfG im Falle einer Triage-Entscheidung zu einer konkreten Schutzpflicht, „weil das Risiko der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung knapper, überlebenswichtiger intensivmedizinischer Ressourcen besteht.“ (Beschluss vom 16.12.2021, Amtliche Leitsätze, Ziffer 2, Absatz 2).In Erfüllung dieser Schutzpflicht muss der Gesetzgeber also eine ausdrückliche Regelung treffen – und zwar unverzüglich, wie der Beschluss explizit festhält. Solange ein hinreichend wirksamer Schutz vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung gewährleistet ist, steht dem Gesetzgeber aber insoweit ein großer Spielraum zu.

Der Aussage von Britta Schlegel, der Leiterin der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte, wonach im jetzt anstehenden Gesetzgebungsverfahren zur Triage von Anfang an Menschen mit Behinderung zu beteiligen sind (zum gesamten Interview  www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/im-gesetzgebungsverfahren-zur-triage-sind-menschen-mit-behinderungen-von-anfang-an-zu-beteiligen), ist daher uneingeschränkt zuzustimmen.

Wolfgang Vogl