Herbstfest am 24.11.2024 - Kommt alle! meldet euch an! Einladung hier.
Einmal geschah eine wundersame Geschichte.
Ein seltsamer Wagen fuhr durch unseren Ort. Es war ein großer blauer Bus, ein wenig verbeult, mit ausgebessertem Lack – ein reiseerfahrenes Gefährt. An dem Abend, als es auf den Dorfplatz rollte, waren die meisten Menschen beim Abendessen. Andere dachten sich nichts Besonderes dabei und gingen vorüber. Daher beobachtete nur eine Handvoll Menschen die Ankunft der geheimnisvollen Insassin. Am Heck des Wagens öffnete sich eine Tür. Eine Hebebühne wurde ausgefahren. Darauf schwebte eine große Frau mit einem bunten Hut surrend auf Bodenniveau herab. Sie schritt würdevoll über den Platz. Schritt sie? Oder … wie soll ich es nennen? Sie benutzte nämlich zum Schreiten nicht ihre Füße. Sie rollte, unter sich einen Sitz mit Rädern, den sie so souverän bewegte, als schwebe sie über dem Boden dahin. Eine Gehilfin begann, den Wagen für die Nacht fertigzumachen. Einem von uns gelang es, durch die halb geöffnete Tür einen Blick hineinzuwerfen: mehrere sperrige Gegenstände waren darin, zugedeckt mit einer Plane. Dann wurde die Tür geschlossen. Der Wagen stand mondbeschienen da.
Christiane bei der TrauerfeierAm nächsten Morgen stand neben dem Wagen ein Karussell. Nicht groß, ein wackeliges Ding, und nur wenige Tiere waren darauf: ein blaues Zauberpferd, ein Traumvogel, ein Dschungeltiger – und ein sonderbarer Kasten aus Metall, der an ein riesiges, oben aufgesägtes Radio erinnerte. Neben dem Karussell thronte die Besitzerin auf ihrem Stuhl. Sie lächelte einladend und sah die Menschen durch eine große, blaue Brille an. „Hereinspaziert, ihr lieben Leute! Mein Zauberkarussell fährt heute in alle Länder der Welt. Das kostet beinah gar kein Geld! Treten Sie näher, meine Herrschaften, steigen Sie ein, und werfen Sie gratis einen kleinen Blick durch meine Wunschbrille, und schon sind Sie in einem anderen Land!“
Wolle Wirsch wagte die erste Fahrt. Die geheimnisvolle Frau ließ Wolle durch die Brille gucken. „Und bitte, Madame, wo soll die Reise heute hingehen?“ – Wolle überlegte. „Ganz weit“, sagte sie. Und weil das Weiteste, was es gibt, das Meer ist, ließ die Frau Wolle auf den Traumvogel steigen und schickte sie über den Ozean. Ehe sie sich versah, flogen sie über die Dächer und das ganze Land, flogen geradeaus und schnell wie eine Schwalbe, bis unter ihnen alles blau war. Das war das große Meer. Die Wellen gingen hoch – und da!!!
Mit einmal sah Wolle unter sich ein Piratenschiff. Es fuhr auf einen Felsen auf und zerschellte. Die Halunken schwammen um ihr Leben und kamen jämmerlich in den Fluten um. Aber Wolle hatte keine Angst, den auf dem verwunschenen Karussell gab es keine echte Gefahr. Die Zauberfrau war ja da. Die Fahrt wurde langsamer, der Traumvogel kam zurück, flog im Kreis, und die Fahrt war zu Ende.
Mehr Menschen meldeten sich, schauten durch die Brille, flogen auf dem Traumvogel über Wüsten und Wälder, ritten auf dem Pferd durch die kasachische Steppe und auf dem Tiger in den Dschungel. Nur in den seltsamen Metallkasten wollte sich keiner setzen. Dabei war er so groß, dass mehrere Leute hineinpassten. Man konnte sich nicht gleich vorstellen, was das für ein Vehikel sein sollte. Erst als die Frau einige gezielt ermunterte, eine Fahrt zu probieren, stiegen mehrere Leute hinein. So auch ich. Die silbergraue Box erwies sich als mindestens ebenso magisch wie die bunten Tiere. Darin tanzten Orte, Bilder und Töne ein Feuerwerk. Es ging so schnell, dass einem schwindlig werden konnte: den Eisstürmen Russisch-Alaskas soeben entronnen, fanden wir uns mitten in der Schlacht um Deggendorf, in der mit Knödeln scharf geschossen wurde; dann wieder landeten wir im Kabinett eines Verschwörers, der gerade einen Königsmord ausheckte. Ehe wir ihn daran hindern konnten, erstickten wir fast in einem Sandsturm der Wüste Gobi, um kurz darauf mit Jurij Gagarins Raumkapsel Sternenstaub einzufangen. Als die Fahrt zu Ende war, taumelten wir benommen, berauscht und beglückt ins Freie.
Heute wissen wir natürlich alle, wer dieser geheimnisvolle Frau war: Ingrid Leitner. Viele von uns haben ihr Karussell besteigen dürfen, haben mit ihr Reisen in die echte und in die Fantasiewelt unternommen, hatten Teil an ihren Leidenschaften und Spaziergängen, teilten ihre Freude an sinnlichen Erlebnissen im Blumenfarbenrausch, durften die Fülle ihrer herrlichen Kochrezepte genießen. Wir haben erlebt, was für Reisen in ihrer Gegenwart möglich waren: grenzenlos, bis zum Horizont und zurück. Ob real in den Bayerischen Wald, zu den englischen Gärten, sogar bis in die Sowjetunion; ob im Hörfunkstudio bei den Produktionen der Sendungen über ferne Orte und Zeiten; ob bei ihren Einladungen, den Autorenabenden, dem Rausch an Geschichten, den Gesprächen und Diskussionen über Gott, die Welt und die Menschen. Nach jeder Begegnung ging man um unvergessliche Erlebnisse bereichert nach Hause.
Ingrid Leitner ist nun selbst auf eine Reise gegangen, auf der wir ihr zumindest jetzt nicht folgen können; eine Reise hinter den für uns erreichbaren Horizont. Doch sie hat uns etwas dagelassen. Das Karussell steht noch da. Hier ist der Schlüssel – und die Zauberbrille.
Wir können es jederzeit benutzen. Sorgen wir dafür, dass es in Schwung bleibt.

Danke, Ingrid, für die Welten-Räume, die Du uns geschenkt hast. Und für alles, was wir mit Dir erleben durften.
Gute Reise – und auf Wiedersehen.

Christiane Neukirch