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Menschen mit und ohne Behinderung wohnen zusammen


Die Idee
Am Anfang stand eine verrückte Idee. Ein bisschen romantisch vielleicht, in jedem Fall reichlich naiv. Ein paar junge Menschen, am Beginn ihres Studiums stehend und mit der Frage befasst, wie sie ein von den Eltern unabhängiges Leben gestalten könnten, ein in München schon damals oft unbezahlbares Unterfangen, fragten sich, ob die wertvollen Erfahrungen, die sie als ehrenamtliche Mitarbeiter bei integrativen Freizeiten der Evangelischen Jugend im Zusammensein mit gleichaltrigen Menschen mit „geistiger Behinderung“ gesammelt hatten, nicht tragfähig genug seien, um einen Schritt weiter zu gehen, also zusammenzuziehen in eine Wohngemeinschaft. Leitbild war dabei von Anfang an die „Studenten-WG“. Ein zentrales Motiv bestand in dem Wunsch, mit Menschen zusammenzuziehen, die sich als Freunde freiwillig zusammenfinden. Und es ging in jedem Fall um ein Gegenbild zur Institution, denn man war institutionskritisch eingestellt, eine in den 1980er Jahren in der „Behindertenhilfe“ keineswegs selbstverständliche Haltung. Als naiv an dieser Idee stellte sich schon sehr schnell die ursprüngliche Vorstellung heraus, sie ganz „privat“, also ohne jede Organisationsform oder gar öffentliche Finanzierung umzusetzen. Denn neben der existenziellen Frage, wo denn eigentlich das Geld herkommen solle, machte sich bald die Erkenntnis breit, dass zwar tragende Säule der bei Bewohnern erforderlichen Hilfe die Solidarität unter zusammen lebenden Menschen sein sollte, diese aber einer zweiten Säule der externen professionellen Unterstützung bedürfte.


Die Fakten
Das grundsätzliche Geschäftsmodell der integrativen WG ist schnell erklärt: Fünf Menschen mit „geistiger Behinderung“ leben zusammen mit vier Personen ohne Behinderung (die nicht zwingend, aber ganz überwiegend Studierende sind). Letztere wohnen in der WG mietfrei und verpflichten sich im Gegenzug zur ehrenamtlichen Mitarbeit. Konkret verpflichten sie sich zur Anwesenheit an einem Tag unter der Woche (von ca. 16:30 Uhr bis ca. 7:30 Uhr am nächsten Morgen) sowie an einem Wochenende pro Monat (Freitagnachmittag bis Montagfrüh) und in dieser Zeit zur Übernahme von Aufgaben sowohl in der Haushaltsführung als auch in der persönlichen Assistenz (inkl. evtl. anfallender Pflege) für ihre behinderten Mitbewohner.
Von außen unterstützt wird die WG durch eine sozialpädagogische Fachkraft (Vollzeitstelle) sowie eine/n Helfer/in im Freiwilligendienst (FSJ bzw. BFD), die an den Feierabenden sowie an den Wochenenden jeweils alternierend im Dienst sind. In der Konsequenz stehen abends und an den Wochenenden jeweils zwei Personen gemeinsam als Ansprechpartner für die Bewohner mit Behinderung zur Verfügung, während Nachtbereitschaft und Frühdienst unter der Woche jeweils von einem Bewohner ohne Behinderung allein übernommen werden.
Menschen mit Behinderung in den Wohngemeinschaften haben einen Unterstützungsbedarf, mit dem sie in dem in Bayern bestehenden Hilfesystem üblicherweise einer stationären Betreuungsform bedürfen würden, weil sie überwiegend auf eine permanente Anwesenheit von Assistenzpersonen angewiesen sind. Die Konzeption sieht vor, dass ein Bewohner mit sehr umfassendem Unterstützungsbedarf in der Wohngemeinschaft leben soll.
Leistungsrechtlich wird das Modell als ambulante Wohnform betrachtet, weil eine Fachkraft nur teilweise anwesend ist. Entsprechend wird die Finanzierung der Betreuungskosten (einschließlich der Mietanteile der Bewohner ohne Behinderung, die quasi Personalkosten sind) über Leistungen des Ambulant Betreuten Wohnens (Sondervereinbarung mit dem Bezirk Oberbayern) sowie in Teilen über Leistungen der häuslichen Pflege (SGB XI) finanziert. Ihren Lebensunterhalt (einschließlich der Miete) finanzieren die Bewohner, sofern sie bedürftig sind, aus Leistungen der Grundsicherung.
Nach der Gründung der ersten WG im Jahr 1989 wurden weitere in den Jahren 1996, 2005, 2006, 2010, 2014 und 2015 eröffnet. In der Studentenstadt München hat das Modell in jedem Fall Potenzial für einen weiteren Ausbau. Selbst Wohnraum kann weiterhin erschlossen werden: Auch der Leistungsträger ist einem weiteren Ausbau gegenüber aufgeschlossen. Eine Grenze besteht am ehesten darin, dass Gemeinsam Leben Lernen (GLL) als Trägerverein selbst einer weiteren Vergrößerung seines Angebots wegen der Gefahr einer Institutionalisierung skeptisch gegenübersteht. Wir werden in den kommenden Jahren zwar in begrenztem Umfang noch weitere WGs eröffnen, würden es aber begrüßen, wenn andere Organisationen die Idee aufgriffen, denn die Nachfrage ist enorm.

 

Das Besondere
Das Besondere an diesem Modell, der „Geist der WGs“, wie wir das nennen, ist schwer zu beschreiben. Er erschließt sich dem Außenstehenden am ehesten, wenn er einmal eine gewisse Zeit am großen Esstisch einer WG verbracht hat. Was vor allem ins Auge fällt, ist der hierarchiearme Umgang aller Beteiligten miteinander. Das Recht aufs Nichterzogenwerden von Erwachsenen mit „geistiger Behinderung“ wird hier schon alleine wegen des fachlich unverbauten Blicks der Mitbewohner ohne Behinderung geachtet, denen die Konzeption explizit ins Stammbuch schreibt, dass sie „keinen pädagogischen Auftrag“ haben. Insgesamt erweist sich die ehrenamtliche Mitarbeit der Bewohner in der Kombination mit der externen fachlichen Unterstützung als unschätzbare Bereicherung. Die WGs sind offene Häuser, in denen Freunde der Bewohner, Ehemalige und bei entsprechendem sozialem Umfeld die Nachbarn ein und ausgehen. Auf die Frage einer Journalistin an einen Bewohner, wie denn seine Kommilitonen seinen Wohnort beurteilten, fand er die bemerkenswerte Formulierung: „Die finden’s cool!“
Das Modell kann nur dadurch erfolgreich sein, dass das Leben in der WG auch für die Bewohner ohne Behinderung als attraktiv erlebt wird. Hierbei spielt nicht nur der materielle Aspekt eine Rolle (ein WG-Platz in München und dann auch noch „gratis“!), sondern das Erfahrungsfeld in einem von einem Bewohner selbst so bezeichneten „warmem Raum“.


Fragen der Weiterentwicklung
Eine besondere Herausforderung unserer WGs besteht in dem Umstand, dass Bewohner ohne Behinderung immer wieder ausziehen (man erwartet von ihnen, dass sie mindestens zwei Jahre in der WG wohnen, nicht selten bleiben sie aber drei bis fünf Jahre), während viele Bewohner mit Behinderung dauerhaft in der WG leben. Dem Bedarf, wenn sie ihre externe Beschäftigung reduzieren oder aufgeben, konnte dadurch begegnet werden, dass in zwei WGs eine tagesstrukturierende Begleitung durch zusätzliches Personal vorgehalten wird. Für den Fall altersbedingt zunehmenden Pflegebedarfs werden erste Erfahrungen mit der Hinzuziehung externer Pflegedienste gesammelt. Was aber bedeutet der zunehmende Altersunterschied zwischen den Bewohnern? Kann es gelingen, trotzdem das Prinzip der „Begegnung auf Augenhöhe“ zu erhalten? Hierzu bestanden schon bei Gründung der ersten WG Bedenken. Gleichwohl bringen nach nun fast 27 Jahren Bewohner von WGs mit hohem Altersunterschied (Altersspanne zwischen 20 und 65 Jahren) zum Ausdruck, dass sie sich als „Mehrgenerationen-WG“ durchaus wohl fühlen. Schwerer wiegt die Frage der häufig fehlenden Entwicklungsperspektive für die Bewohner mit Behinderung: Bei ihren Mitbewohnern erleben sie, dass diese nach einer gewissen Zeit die WG verlassen, vordergründig, weil sich ihre Lebenssituation verändert, sie zum Beispiel ihr Studium beendet haben, eine Familie gründen oder in eine andere Stadt ziehen, aber häufig auch, weil sie nach einigen (durchaus genossenen) Jahren in der WG jetzt gerne eine Wohnform wählen, in der sie nicht mehr so viele Kompromisse eingehen müssen wie in einer Gruppe von immerhin rund zehn Individuen unvermeidlich. Diese Veränderungsperspektive besteht für Bewohner mit Behinderung häufig nicht, und sie zu entwickeln, gehört zu den vordringlichen Aufgaben. GLL versucht mit seinem neuesten Wohnprojekt einen möglichen Weg: In der unmittelbaren Nachbarschaft zu einer WG besteht hier für Menschen mit Behinderung die Möglichkeit, in so genannten Satelliten-Apartments einzeln oder als Paar zu leben und von dort aus selbst zu „dosieren“, wie weit sie die Nähe und Geborgenheit der benachbarten Gruppe nutzen wollen. Die positiven Erfahrungen mit diesem Weg ermuntern uns, ihn auch auf andere Standorte auszubauen.


Rudi Sack


Der Trägerverein Gemeinsam Leben Lernen bezieht Anfang Juni neue Räumlichkeiten und ist ab 07.06.2016 unter der Adresse Goethestr. 8, 80336 München erreichbar.
Ansprechpartner für die vorgestellten Wohngemeinschaften ist Herr Rudi Sack, Tel: 089/ 89 055 98 -11, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.