Ob man im Kreisverwaltungsreferat neue Ausweispapiere beantragen möchte, in Kundencentern von MVG oder Bahn Fahrkarten erwerben muss oder im Sozialbürgerhaus Belange zu regeln hat, vielerorts muss man sich dazu in eine Warteschlange einreihen und für behinderte Menschen ist dies häufig gar nicht so einfach: gehbehinderten Menschen fällt beispielsweise das Warten im Stehen oft schon aus praktischen Gründen schwer oder blinde Menschen sehen logischerweise gar nicht, wann und wo einer von mehreren Schalterplätzen frei ist und „finden“ diesen eigenständig auch nur bei entsprechendem Leitsystem oder mit fremder Hilfe.
In vielen Ländern sind daher bei entsprechenden Einrichtungen Schalter mit dem Rollstuhl-Piktogramm gekennzeichnet und auch per Leitsystem „erschlossen“, an dem behinderte Menschen nach dem zuletzt an diesem Schalter bedienten nicht behinderten Kunden an die Reihe kommen. Dies gilt andernorts als „Serviceleistung“ für behinderte Menschen, als ebenso selbstverständlicher Ausdruck, behinderte Menschen am öffentlichen Leben teilhaben zu lassen wie Rampen oder Aufzüge. Bedauerlicherweise scheint dies aber in München mitunter gänzlich anders gesehen zu werden. So verfügt das im neu renovierten Sperrengeschoss eingerichtete Kundencenter der MVG am Hauptbahnhof bis zum heutigen Tag über kein Leitsystem, das einen blinden Kunden ohne fremde Hilfe direkt zu einem der Schalter lenken würde, da von blinden Kunden nach Unterstellung der insoweit Verantwortlichen eine solche „Bevorzugung“ selbst nicht gewollt werde – von einem mit Rollstuhl-Piktogramm versehenen Schalter im oben beschriebenen Sinn ganz zu schweigen . Stattdessen wird auf Hilfe durch andere Kunden verwiesen, die sich gut bewähre.
Vor diesem Hintergrund wird sich der Leser über die nachfolgende Geschichte wundern, die mir während meines Weihnachtsurlaubs in Mailand passiert ist: Die Stadt Mailand leiht sich seit einigen Jahren jeweils zur Weihnachtszeit ein oder zwei thematisch auf das Weihnachtsfest bezogene Kunstwerke aus bedeutenden Museen aus, zeigt sie unentgeltlich im Rathaus und lässt dazu engagierte Kunsthistoriker die Werke dem Publikum erläutern. Es bilden sich daher in diesem Zeitraum - abhängig vom Wochentag und der Uhrzeit – mitunter lange Schlangen im Freien vor dem Rathaus. Als ich an einem Nachmittag das dieses Jahr gezeigte Rubens-Bild “Die Anbetung der Hirten“ aus der Pinakothek von Fermo ansehen wollte, sah ich eine etwa 50 Meter lange Schlange stehen. „30 Minuten – mehr oder weniger.“ dachte ich und stellte mich ans Ende der Schlange. Auf die Idee, mit meinem Gehstock an den Wartenden vorbeizugehen und wegen meiner nur beschränkten Fähigkeit, im Stehen zu warten, direkt um Einlass zu bitten, wäre ich eingedenk der in München gemachten Erfahrungen nie gekommen. Allerdings fiel der Polizistin, die am Einlass kontrollierte, – in den gegenwärtigen Zeiten werden ja auch solche „harmlosen“ Veranstaltungen aus Angst vor Terroranschlägen durch Metalldetektoren und polizeiliche Präsenz abgesichert – auf, dass am Ende der Schlange ein Mann mit Gehstock – ich - wartete. Zielsicher ging sie los und kam auf mich zu. „Sie warten hier nicht in der Schlange in der Kälte, sondern kommen mit mir mit. Ich begleite Sie zum Eingang.“ Ungläubig und unsicher ging ich mit der Polizistin mit, an den übrigen Wartenden vorbei und in der Befürchtung in missgünstige und protestierende Gesichter wegen der ungerechtfertigten Bevorzugung eines behinderten Menschen sehen zu müssen. Doch stattdessen wurde mir bereitwillig Platz gemacht und viele der Wartenden lächelten mich im Vorbeigehen sogar an.
Ein Weihnachtswunder? Andere Länder, andere Sitten?
Natürlich ist auch Italien nicht das Wunderland, in dem behinderte Menschen auf Händen getragen werden. Unhöflichkeiten Einzelner habe ich hier wie dort erlebt. Bis die zum Mailänder Dom führenden Stufen endlich durch eine Rampe ergänzt wurden, die somit auch einen Besuch von Rollstuhlfahrern ermöglichte, vergingen Jahre und der Weg zur Barrierefreiheit ist auch dort noch weit und steinig.
Einen Unterschied glaube ich aber schon festgestellt zu haben: Während man mich in Deutschland häufig von oben herab behandelt und ich – wegen einer neurologisch bedingten Sprachbeeinträchtigung – oft von wildfremden Menschen geduzt, wie ein Kleinkind mit kurzen, übertrieben deutlich prononcierten Sätzen angesprochen werde (wenn nicht gleich über meinen Kopf hinweg mit einem Begleiter kommuniziert wird, falls ich nicht allein unterwegs bin) oder auch wie ein Schuljunge zurechtgewiesen oder belehrt werde (ich bin annähernd fünfzig), begegnet mir die Umwelt in Italien nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe. Menschen mit Behinderung werden in Italien vielerorts nicht als disabile – behindert - bezeichnet, sondern als persone con abilità diverse - Menschen mit anderen Fähigkeiten. In dieser Bezeichnung spiegelt sich naturgemäß auch die Überzeugung wider, diese Menschen entsprechend ihren anderen Fähigkeiten zu behandeln und nicht wie Kleinkinder, bei denen der Verweis auf Hilfe durch Dritte praktisch und legitim erscheint.
Es ist müßig, über die Ursachen für die von mir festgestellten Unterschiede zu spekulieren und mancher mag sogar unterstellen, meine Diagnose sei subjektiv oder Ausdruck einer (übertriebenen?) Italophilie. Eines scheint für mich aber außer Frage: Wenn ich einen behinderten Menschen ernst nehme und mit ihm auf Augenhöhe interagiere, nehme ich auch dessen Einschränkungen und daraus resultierende Bedürfnisse ernst und komme gar nicht auf die Idee, eine Berücksichtigung derselben als ungerechtfertigte Bevorzugung behinderter Menschen gegenüber nicht-behinderten abzuleiten, geschweige denn, ihn auf die Inanspruchnahme von Hilfe durch Dritte zu verweisen.
Wolfgang Vogl