Kürzlich kam ich auf einer Bahnfahrt mit einer im selben Großraumwagen reisenden älteren Dame ins Gespräch, die mir eine sehr interessante Geschichte erzählte.
Da ich mir dachte, diese Geschichte passt gut zu unserem Themenschwerpunkt über aktive und passive Sterbehilfe, versuche ich im Folgenden, das Gespräch mit der Dame zu rekonstruieren. Es ging um die Mutter ihrer Schwiegertochter.
Carola Walla (CW.) Was hat sich denn da genau abgespielt, was ist geschehen?
D. Die Mutter meiner Schwiegertochter hat sich vor ein paar Jahren das Leben genommen.
CW. Wie alt war sie denn da und warum hat sie es getan?
D. So genau kann ich Ihnen nicht sagen, wie alt sie war. So Mitte 70 vielleicht. Sie hatte die Diagnose erhalten, dass Sie an Alzheimer litt.
CW. Und weshalb hat sie dann beschlossen, aus dem Leben zu scheiden?
D. Da sie selber Ärztin war und in ihrer Familie mehrere Alzheimerfälle vorkamen, bei denen sie hautnah den Verfall und die Probleme für die Betroffenen und deren Familie miterlebte hatte, beschloss sie, dass sie diesen Weg nicht gehen wollte.
CW. Ja, hat sie da denn schon starke Ausfälle gehabt?
D. Also ich habe davon nichts gemerkt, aber meine Schwiegertochter meinte ja, die waren schon sehr stark.
CW. Wie stand denn die Familie dazu?
D. Ihre 5 Kinder und deren Partner haben das akzeptiert. Sie hat sie, nachdem ihr Beschluss fest stand und sie ihren ganzen Nachlass geregelt hatte, informiert.
CW. Haben ihre Kinder das nie in Frage gestellt oder gemeint, das sei zu früh?
D. Nein, nicht. Und sie hat sich sehr würdig von ihrer Familie verabschiedet. Alle waren in einem Zimmer versammelt und dann ging sie ins Nebenzimmer, um dort den Giftcocktail, den sie sich selber zubereitet hatte, zu trinken. Nach dem Eintritt ihres Todes gingen die Kinder dann in das Sterbezimmer, um von der Toten Abschied zu nehmen. Da wurden dann auch die Enkelkinder geholt, die bislang nicht eingebunden waren, einige waren auch noch recht klein. Die ganze Familie und auch einige Freunde waren tief beeindruckt, wie sie das durchgeführt hat.
CW. Hätten Sie sich vorstellen können, dass sie noch wartet und verfügt, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt, wo die Krankheit schon deutlich fortgeschritten war, dann von jemand dieses Gift verabreicht bekommt, also aktive Sterbehilfe bekommen hätte, zu einem Zeitpunkt, an dem sie es nicht mehr alleine durchführen konnte?
D. Wer hätte das denn machen sollen? Ein Arzt macht sich strafbar und jeder Andere auch. Nein, das hielte ich nicht für erstrebenswert, das ist schon ein Unterschied, ob sich jemand selbst tötet oder wenn jemand anderes das durchführt.
CW. Danke, dass Sie so offen mit mir darüber gesprochen haben.
Ich habe noch eine Anmerkung dazu:
Ich finde es richtig, dass ein Mensch bestimmen können sollte, wann er aus dem Leben scheidet. Ich habe in meinem Berufsleben ein paar wenige Menschen erlebt, die unbedingt sterben wollten, die wegen ihrer fortschreitenden Behinderung nicht mehr leben wollten, weil sie berechtigte Panik davor hatten, nur noch im Bett zu liegen, keinen Kontakt mehr aufnehmen zu können und Objekt der Pflege, egal wie gut oder schlecht, zu sein. Aber ich habe auch Befürchtungen, dass in Zukunft von Menschen erwartet wird, dass sie sich, sobald sie nicht mehr richtig funktionieren, selber „entsorgen“ sollen.
Dabei ist mir vor allem eine Talkrunde im Fernsehen mit dem Sohn von Walter Jens in schlechter Erinnerung. Dort wurde berichtet, dass Walter Jens eigentlich auch bei fortschreitender Demenz, seinem Leben ein Ende setzen wollte, er aber den Zeitpunkt verpasst hatte und das wurde jetzt ganz groß beklagt. Obwohl man hörte, dass es ihm eigentlich ziemlich gut ging und er sein Leben genoss (er hatte ja auch vermutlich genügend Geld für eine gute Pflege). Zwar war die Erinnerung an sein früheres Leben verschwunden und er kannte niemanden mehr. Aber es hörte sich so an, dass er sich trotzdem seines Lebens freute. Will man eigentlich mehr? Mir macht die Rigorosität mancher Menschen zu sich selber Angst und auf keinen Fall möchte ich erleben, dass demnächst gesagt wird: Ist doch selber schuld, er oder sie hätte dem Allen doch rechtzeitig ein Ende bereiten können.
Carola Walla