Wellen, Wind und weiße Segel. Das war unser Ferientraum. Doch zuvor: Staus überall – das lässt sich im August leider nicht vermeiden! Verantwortlich dafür sind nicht nur Deutschlands große Ferien, sondern auch die Besitzer von Ferienwohnungen, die nur von Wochenende zu Wochenende vermieten. Fragt man, ob das wirklich sein müsse, so antworten sie, das läge gar nicht an ihnen. Dieses Diktat eines gleichzeitigen Massenwechsels an Wochenenden käme von den Firmen, die ihre Betriebsferien häufig in diesem Wochenend-Rhythmus planen. Wie auch immer – es bleibt ärgerlich!
Aber nun zu den überaus erfreulichen und interessanten Dingen, die ein Bayer im hohen Norden erleben kann. Wussten Sie, dass der Kabeljau an der Ostsee „Dorsch“ heißt und anders schmecken soll als anderswo? Die Ostsee hat etwa ein Drittel weniger Salz im Wasser als andere Meere und das soll der Grund dafür sein. Vielleicht schwimmen auch nur deshalb Schwäne die Ostseeküste entlang. Was ich nie für möglich gehalten hätte. Und noch eine Besonderheit: Es gibt nicht nur Gebirgsbach- sondern auch Meeresforellen. Dabei habe ich Schwäne immer für eine rein Münchnerische Erfindung gehalten, eingesetzt zur Zierde des Nymphenburger Kanals und des Englischen Gartens! Und auch Forellen waren für mich eine genuin bayerische Kampfansage gegen Victoria-Barsch, Pangasiusfilet und Tilapia, die sich seit einiger Zeit auf den hiesigen Speisekarten breit machen. Ist das nicht alles interessant? Man sieht eben doch, dass Reisen bildet!
Aber nun zu den vielen anderen Entdeckungen am Ostseestrand in Mecklenburg- Vorpommern. Insgesamt übrigens ein faszinierendes Land mit alten Alleen, Schlössern, zahlreichen Seen, Wäldern, gutem Essen, freundlichen Menschen und einigen Neo-Nazis.
Doch von Anfang an: Ich war mit zwei Freundinnen unterwegs an die Ostsee und wir hatten beschlossen, auf der langen Reise in Leipzig Rast zu machen. Dort sehr zu empfehlen: das Hotel „Victor’s Residence“. Es bietet ein barrierefreies Doppelzimmer, ausgestattet mit 2 Pflegebetten! Auch in den Ibis - Hotels in Dresden gibt es übrigens barrierefreie Doppelzimmer mit zusätzlich einem Pflegebett. Das nur, falls Sie einmal auch diese wunderschöne Stadt besuchen wollen!
In Boltenhagen, einem kleinen Seebad zwischen Lübeck und Wismar, angekommen, waren wir von der barrierefreien Ferienwohnung aufs angenehmste überrascht – so großzügig, sopraktisch, so gemütlich – das gibt es wohl kein zweites Mal! Schiffsfahrpläne, Prospekte von allen Sehenswürdigkeiten, Restaurants mit schmackhaftem Angebot, Einkaufsgelegenheiten, die Kurkarte für Behinderte wurden uns schon vorher zugesandt. Außerdem wies die Wohnung ebenfalls ein Pflegebett auf, einen Geschirrspüler, eine Waschmaschine, ein höhenverstellbares Waschbecken im geräumigen Bad, einen Strandkorb für die Terrasse usw. usw. Aber jetzt – wo war es nun, das Meer? Auf der Herfahrt blitzte es schon ein paarmal durch die Bäume. In Boltenhagen überquert man nur eine Straße, die Ostseeallee, (in jedem Seebad scheint es übrigens eine Ostseeallee zu geben!) macht ein paar Schritte durch den kleinen Kurpark und rollt über eine Holzrampe auf die lange Seebrücke, die weit ins Meer hinausführt. Und da war es, das Meer!
Am Horizont verschwammen Wasser und Himmel, kein Wind, ein heller Sandstrand und in der Ferne hinter dem Haff mit seiner Steilküste ging die Sonne unter. Strahlendes Wetter auch die ganze Woche! Größte Enttäuschung: Von der Seebrücke aus, wo die weißen Ausflugsschiffe anlegen – zur Insel Poel, nach Wismar, die Steilküsten entlang – führen etwa 20 Stufen hinunter zum Schiff. Meine Freundin fragte den Kapitän, warum das so schlecht gelöst sei und es für Rollstuhlfahrer oder schwer Gehbehinderte gar keine Möglichkeit gäbe mitzufahren? Sie hätten die Gemeinde Boltenhagen schon oft auf eine Rampe angesprochen, doch die würde überhaupt nicht reagieren. Einen Menschen im Schieberollstuhl würde er ja hinunter und wieder hinauftragen, aber einen Elektrorollstuhl...??? Bevor wir uns nun über die Behindertenfeindlichkeit ostdeutscher Badeorte aufregen, muss man sagen, dass Behinderte dort relativ gut zurechtkommen, ja dass es manchmal sogar scheint, als wäre die Barrierefreiheit im Osten durchaus weiter gediehen als bei uns im Süden. Ein Musterbeispiel für touristisch-bayerische Ignoranz in Bezug auf Behinderte ist für mich ja immer Bad Reichenhall, wo sich trotz jahrelangem Gejammer, dass die Gäste ausbleiben, kein einziges Hotel mit Pflegebett oder wirklich barrierefreiem Zimmer finden lässt, obwohl im Kurpark zahlreiche ältere Menschen im Rollstuhl herumgeschoben werden.
Doch zurück zu den sanften Meereswellen der Ostsee. Wer als Behinderter zum Strand und ins Wasser will, muss den Dünen entlang gehen und die hölzernen Stege abklappern, die in kurzen Abständen auch dem Rollstuhlfahrer die Möglichkeit geben, die Düne hinauf und hinüberzurollen. Die meisten Einstiege sind natürlich vor allem für normal bewegliche Badegäste angelegt, dann kommt ein Strand für Hunde, einer für FKK, manchmal einer für Kinder und auch einer für behinderte Menschen. Da läuft der Zugangssteg dann etwas weiter hinein in den Sand, aber auf dem letzten Stück bis ins seichte Wasser muss man sich alleine behelfen (z.B. mit einem Strandrollstuhl wie ihn Frau Wiedenmann in unserer Ausgabe vom Juni 2009 beschrieben hat). Die Strände an der Ostsee geben übrigens seit einigen Jahren ein besonders farbenprächtiges Bild ab.
Denn neben den Strandkörben, die man mieten muss, gibt es farbenprächtige kleine Rundzelte, vorne offen, sodass man hineinkriechen und sich umziehen, auch vor Wind und Sonne schützen und den Picknickkorb neben den Getränkekisten aufbewahren kann (siehe Foto). Jede Familie kommt mit so einem Zeltchen, mit Schwimmreifen und Gummientlein schwer bepackt oder mit einem Bollerwagen (die heißen in Bayern übrigens Leiterwagerl) zum Strand, zahlt möglichst keine Gebühr – ein Strandbesuch kostet 2 Euro 50, aber die Strandwächter sind nicht streng und auch nicht immer an Ort und Stelle! Übrigens trägt das Badevolk hier auffallend wenig Sonnenhüte, Sonnenbrillen und Sonnencreme auf der Haut. Ein deutlicher Unterschied zu bayerischen Strandgewohnheiten! Und wenn man den Strand satt hat, geht man in eines der vielen Cafes und verzehrt riesige Kuchenstücke, oder kauft sich an den zahlreichen Ständen ein Fischbrötchen mit Matjes, Bismarckhering, Seelachs oder Thüringer Bratwurst. Die schmecke nach Aussage eines Standlbesitzers in Mecklenburg-Vorpommern sowieso am besten! Und so rollen Sie mitten in der hin- und herwogenden Schar leichtbekleideter Norddeutscher dahin – satt, Salzwasser-imprägniert und glücklich! Wir haben die ganze Woche nur Fisch gegessen, denn der ist hier frisch und schmackhaft zubereitet, meistens allerdings gebraten, oder geräuchert, selten gedünstet und mit Soße. Und auch das Eis war natürlich begehrt in dieser Schönwetterwoche! Vor den Eisverkäufern standen lange Schlangen, die bis zu einer halben Stunde auf eine Tüte dieses süß schmelzenden Produkts warteten. Uns Bayern schmeckte das nur mäßig bis gar nicht. Und wenn ich bedenke, welcher Luxus an köstlichstem Eis in München angeboten wird, dann sollte man sich die Eisgelüste in Boltenhagen verkneifen. Sogar ein ostdeutscher Genießer murmelte, als er seine Zunge gerade hoffnungsvoll mit einer sehr roten Masse beglücken wollte, „o je, das schmeckt ja wie früher!“ Auch so kann man sich an die alte DDR erinnern.
Wenn man vom Strand dann genug hat, oder andere Seebäder oder auch Kunstdenkmäler sehen will, dann hat man in Reichweite wunderbare Gelegenheiten. Das durch Angela Merkel und ihre politischen Kollegen eindringlich ins Fernsehbild gerückte, angeblich so vornehme und prächtige Seebad Heiligendamm erschien mir steril, leicht vergammelt und unlebendig! Das Schönste waren die Strandpromenade ohne vorgelagerte Düne und deshalb mit freiem Blick auf bewegte, blaugraue Meereswellen, überwölbt von einem Himmel, der überirdisches Blau zwischen den aufreißenden Wolken hervorleuchten ließ, und die Hortensien! Einer Hotelumzäunung entlang wuchsen üppige Büschel von cremigweißen und zart rosa Blütenköpfen, eine schäumende Pracht von kostbarer Schönheit! Und überhaupt die interessante Pflanzenwelt – die Stockrose wächst den häufig riedgedeckten Häusern und Gärtchen entlang in schönster Blüte. Auch die Begonie gedeiht hier besonders reich und saftig, ebenso die zerzausten Wälder an der Küste, die Wind und Regen oft in Schräglage trotzen, darunter eine besonders kleinblättrige, aber zählebige Buche. Viele Besonderheiten gibt es also auch auf diesem Gebiet zu bewundern! Zurück zu den Seebädern. Wie lebendig im Vergleich zu Heiligendamm sind Badeorte wie Kühlungsborn oder Warnemünde.
Und lassen Sie sich auf keinen Fall die stille Magie des schwebenden Engels von Ernst Barlach in Güstrow entgehen! Sinnlich-übersinnlich zugleich – die in allen Ziegelrottönen leuchtenden Backsteinkirchen entlang der Ostsee und wie gediegen, wohlhabend, stolz und formenreich zeigt sich eine Hansestadt wie Wismar! Wismar ist übrigens ebenso schön wie Lübeck, nur noch nicht ganz so glattgebürstet.
Also – liebe Naturliebhaber, Kunstbegeisterte, kulinarisch Interessierte oder Wasserratten – für Sie alle gibt es an der Ostsee Bemerkenswertes in reichem Maß! Probieren Sie es doch einmal aus!
Ingrid Leitner