Nach Art.24 der auch von Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen. Wie das in unserer Juni-Ausgabe erschienene Interview zeigt, treten aber bei der Anmeldung eines behinderten Kindes zur Regelschule oftmals nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten auf. Dies scheinen die Zahlen des Deutschen Behindertenrates zu untermauern, wonach weniger als 20 Prozent der behinderten Kinder Regelschulen besuchen. Zum Vergleich: In einigen Staaten der EU erreicht dieser Anteil die 90 % - Marke. Dies haben wir zum Anlass genommen, beim Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus nachzufragen, wie es um inklusive Bildung in Bayern bestellt ist.

Das Ministerium hat uns freundlicherweise folgende Stellungnahme übersandt:
„Die Behindertenrechtekonvention ist das erste universelle Rechtsdokument, das die bestehenden Menschenrechte – bezogen auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen – stärkt und konkretisiert. Ziel der Konvention ist es, eine volle und gleichberechtigte Teilhabe an allen Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten, die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern sowie ihre Diskriminierung in der Gesellschaft zu unterbinden. Die Konvention gibt Impulse für vielfältige Entwicklungen im Bereich der sonderpädagogischen Förderung. Die Konvention setzt einen Meilenstein in diesem Entwicklungsprozess und wird von uns sehr begrüßt. Die Umsetzung der Konvention ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht nur den Bildungsbereich betrifft, ist sie längerfristig und schrittweise angelegt. Dabei werden sich komplexe Strukturen nicht von heute auf morgen verändern lassen. Dies fordert die Konvention auch nicht. Wichtig ist, dass die richtigen Schritte veranlasst werden, um die individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung in ihren unterschiedlichen Facetten und Möglichkeiten im vermehrten Umfang und dauerhaft an der allgemeinen Schule zu etablieren. Dabei werden auch die Förderschulen eine wesentliche Rolle spielen. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe aller Fraktionen des Bayerischen Landtags hat Eckpunkte zur Umsetzung der Konvention erarbeitet, die derzeit seitens des Kultusministeriums konkretisiert und abgestimmt werden. Im Sommer soll ein Gesamtkonzept vorgestellt werden. Dabei möchten wir auf bestehenden Konzepten wie den Kooperations- und Außenklassen aufbauen und zudem neue Konzepte entwickeln und umsetzen. Seit mehreren Jahren hat sich Bayern auf den Weg gemacht, integrative Beschulung von Kindern mit Behinderung in der allgemeinen Schule umzusetzen. Die BayEUG-Novelle 2003 hat sehr vielen Kindern mit Behinderung den Zugang zur allgemeinen Schule eröffnet und Kooperationen zwischen allgemeiner Schule und Förderschule auf den Weg gebracht. Dabei bestehen zwei wesentliche Säulen in Bayern, nämlich sowohl die Unterrichtung in der allgemeinen Schule als auch das hohe fachliche Angebot der Förderschulen.

Derzeit zeichnen vier unterschiedliche Unterrichtsformen den „Bayerischen Weg“ aus:

1. Außenklassen: (Schuljahr 2008 / 2009) 139 Klassen. Hier arbeiten eine Klasse der Förderschule und eine Klasse der allgemeinen Schule zusammen. Dies kann unter dem Dach der allgemeinen Schule oder der Förderschule stattfinden. So kann aus räumlicher Nähe persönliche, soziale und pädagogische Nähe werden. Außenklassen an der allgemeinen Schule gibt es vor allem von Förderzentren, Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Die Verschiedenheit der Kinder wird als besondere Chance für die Klassen und für jeden Einzelnen gesehen.

2. Kooperationsklassen: (Schuljahr 2008 / 2009) 532 Klassen Bei Kooperationsklassen handelt es sich um besondere Klassen der allgemeinen Schule. Kooperationsklassen besuchen - Kinder ohne und mit sonderpädagogischem Förderbedarf, wenn dieser nicht so umfangreich ist, dass er nur an einer Förderschule erfüllt werden kann, - Kinder, die aus einer Förderschule in eine Klasse der allgemeinen Schule zurückgeführt worden sind und bei denen noch individueller Förderbedarf besteht. Der Unterricht erfolgt nach dem Lehrplan für die Grundschule oder Hauptschule. Eine Lehrkraft der Förderschule betreut die Kooperationsklasse mit mehreren Stundenpro Woche im Rahmen der Mobilen Sonderpädagogischen Dienste. Die Klassenleitung der allgemeinen Schule und die Lehrkraft der Förderschule arbeiten eng zusammen und beraten sich regelmäßig. Die sonderpädagogische Unterstützung kann sowohl innerhalb der Klasse als auch in Kleingruppen oder als Einzelförderung erfolgen.

3. Einzelintegration (mit Integrationshelfer): Der Besuch der allgemeinen Schule (teilweise auch der Förderschule) wird durch einen persönlichen Helfer unterstützt, der über die bayerischen Bezirke im Wege der Eingliederungshilfe finanziert wird.

4. Mobile Sonderpädagogische Dienste (MSD): Lehrkräfte für Sonderpädagogik unterstützen Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der allgemeinen Schule. Derzeit werden ca. 17.000 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die die allgemeine Schule besuchen, durch den MSD unterstützt.

Die Umsetzung des Übereinkommens gibt Anlass dazu, die bestehenden Möglichkeiten für gemeinsames Lernen von Menschen mit und ohne Behinderung quantitativ und qualitativ auszubauen. Eine große Herausforderung sind neben der Fortentwicklung schulischer Konzepte auch die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte. Im Mittelpunkt müssen dabei die betroffenen Schülerinnen und Schüler stehen und damit auch verschiedene Möglichkeiten der Förderung und des gemeinsamen Unterrichts. Ziel ist ein inklusives Bildungssystem, das sich auf das einzelne Kind einstellt. Das Kultusministerium wird in diesem Zusammenhang die Entscheidungsrechte der Eltern über den Lernort ihres Kindes stärken und den Zugang zur allgemeinen Schule weiter ausbauen. Gegenwärtig besuchen nach unseren Erhebungen ca. 23 % der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung die allgemeine Schule. Man muss hierzu aber sagen, dass es sehr schwierig ist, eine entsprechende Quote sicher zu erheben. Einerseits ist die Definition von sonderpädagogischem Förderbedarf oder auch die Definition von Behinderung manchmal sehr schwierig – gerade in Grenzbereichen. Auch gibt es Behinderungen, die nicht unbedingt auch einen sonderpädagogischen Förderbedarf begründen. So besucht ein Kind im Rollstuhl, welches keine sonderpädagogischen Unterstützungsmaßnahmen benötigt, in der Regel natürlich die allgemeine Schule. In der schulischen Statistik wird es nicht von Kindern ohne Behinderung unterschieden. Wichtig ist daher nicht so sehr das Berechnen von Quoten, sondern der Ausbau und die Verbesserung der bestehenden Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche.“

Nachdem die Stellungnahme aus unserer Sicht einige Fragen aufwirft, haben wir am 21. Juni in einer Reaktion auf die erhaltene Stellungnahme diese Fragen formuliert. Eine Beantwortung erfolgte aufgrund eines Sachbearbeiterwechsels im Ministerium bis dato (Stichtag 20. Juli) noch nicht.

Haben auch Sie Erfahrungen bei der Einschulung Ihres behinderten Kindes in eine Regelschule oder danach gemacht? Stehen Ihre Erfahrungen im Einklang mit der ministeriellen Stellungnahme? Schreiben Sie uns!

Carola Walla und Wolfgang Vogl