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Der europäische Gedanke in den letzten Jahrzehnten

Der europäische Einigungsprozess ähnelt seit jeher eher der Echternacher Springprozession als einem geradlinigen Integrationsprozess: das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in den Fünfziger Jahren, die Politik des leeren Stuhls in den Sechzigern (darunter wird das dauerhafte Fernbleiben der fran­zösischen Verhandlungsdelegation von den Ratssitzungen verstanden und die dadurch bedingte Beschlussunfähigkeit dieser Institution) oder die Ablehnung der Verfassung der Europäischen Union durch Frankreich und die Niederlande im Jahre 2005 sind nur drei Beispiele einer Reihe bedauerlicher Rückschläge im Rah­men der europäischen Einigung. Dennoch überwiegen bei weitem die positiven Aspekte. Wer hätte es jemals für möglich gehalten, mit einer einheitlichen Wäh­rung, dem Euro, in Helsinki und Palermo, Athen oder Lissabon bezahlen zu können, ohne lästiges Umtauschen und Umrech­nen? Wer hätte sich noch vor wenigen Jahrzehnten vorstellen können, ohne lange Warteschlangen an der Grenze in den Urlaub zu fahren? Darüber hinaus hat der freie Verkehr von Waren, Dienstlei­stungen und Personen Europa einen nie da gewesenen Wohlstand beschert und unser Leben grundlegend verändert, und durch die Politik der Europäischen Union wurden europaweit einheitlichere Lebens­bedingungen geschaffen.
Es mag mittlerweile in Mode gekom­men sein, die Regulierungswut europä­ischer Organe anzuprangern und kein gutes Haar an dem Brüsseler Wasser­kopf zu lassen. Bei aller berechtigter Kritik an Missständen oder Auswüchsen in der Europäischen Union sollte jedoch nie außer acht gelassen werden, welche unbestreitbaren Vorteile die europäische Einigung für jeden Einzelnen täglich mit sich bringt.

Das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon

Vor diesem Hintergrund ist auch der Vertrag von Lissabon zu sehen. Ursprüng­lich unterzeichneten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Oktober 2004 in Rom den weitaus ambitionierteren EU-Verfassungsvertrag, der dann zwei Jahre später hätte in Kraft treten sollen. Im Jahre 2005 lehnten aber sowohl Frank­reich als auch die Niederlande in Volks­abstimmungen diesen Vertrag ab, was umso schwerwiegender war, als beide Staaten Gründungsmitglieder der Euro­päischen Union und mithin Initiatoren des Einigungsgedankens sind. Nach einer Zeit der Sprachlosigkeit und des Nachdenkens entschloss man sich dann zu einer weni­ger ehrgeizigen Reform der geltenden Struktur und unterzeichnete im Dezember 2007 in Lissabon einen neuen Vertrag (daher der Name Vertrag von Lissabon), der eigentlich am 01.01.2009 hätte in Kraft treten sollen. Dieser Vertrag nahm gewissermaßen die vorher geäußerten Vorbehalte auf, indem zunächst auf einen Bundesstaat hindeutende Bezeichnungen wie Verfassungsvertrag oder Außenmini­ster verzichtet wurde. Inhaltlich wurde die Substanz des Verfassungsvertrags jedoch übernommen, aber nicht mehr in einem die bisherigen Gründungsverträge erset­zenden Verfassungsdokument niederge­legt, sondern in die geltenden Verträge eingearbeitet.
Nichtsdestotrotz war auch das Inkrafttreten dieses Vertrages mit großen Schwierigkeiten behaftet: in Deutschland musste aufgrund von Verfassungsbe­schwerden erst eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abgewartet werden; ein erstes Referendum in Irland im Juni 2008 fiel negativ aus, erst nach­dem der Vertrag in einigen Punkten geän­dert wurde sowie vermutlich unter dem Einfluss der Finanzkrise verlief eine zweite Volksabstimmung im Oktober 2009 dann positiv; Tschechien schließlich hinterlegte als letzter Staat erst im November 2009 seine Ratifizierungsurkunde und auch nur nach Garantie eines Zusatzes im Vertrag, wonach die Grundrechtecharta der Euro­päischen Union für Tschechien nicht bin­dend ist. Damit konnte der Vertrag von Lissabon mit elfmonatiger Verspätung am 01.12.2009 in Kraft treten. 

Die Grundrechtecharta der Europä­ischen Union

Es würde den Rahmen des vorlie­genden Artikels sprengen, sämtliche Neuerungen des Vertrages von Lissabon darstellen zu wollen und wäre hier auch nur von begrenztem Interesse. Unter dem Gesichtspunkt der behindertenspe­zifischen Relevanz verdient es jedoch die Grundrechtecharta der Europäischen Union, näher betrachtet zu werden.
Nach Absatz 1 des neu gefassten Artikels 6 des EU -Vertrages werden „die Rechte, Freiheiten und Grundsätze … der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 … angepassten Fas­sung“ anerkannt, wobei diese Charta den gleichen rechtlichen Rang wie die Grün­dungsverträge besitzt.

Diese Charta legt erstmals umfas­send und schriftlich Grund- und Men­schenrechte im Rahmen der Europäischen Union nieder und wird für alle Staaten außer Großbritannien, Polen und Tsche­chien für bindend erklärt.
Doch warum Grundrechte in der EU? Handelt es sich dabei nicht um einen wirt­schaftlich orientierten Zusammenschluss europäischer Staaten? Schützen zudem nicht europäische und innerstaatliche Rechtsinstitute den Bürger vor Übergrif­fen, wie beispielsweise die Europäische Menschenrechtskonvention oder inner­staatliche Verfassungen mit Grundrechte­katalogen?
Auch wenn diese Fragen mit einem eindeutigen Ja zu beantworten sind, liegt es ebenso eindeutig auf der Hand, in wel­chem Umfang Organe der Europäischen Union durch ihr Handeln oder europä­isches Recht bei seiner Anwendung in Rechte und Freiheiten der Bürger eingrei­fen können. Und so beschäftigte sich das Rechtsprechungsorgan der Europäischen Union (damals noch der Europäischen Gemeinschaft), der Europäische Gerichts­hof, bereits seit Beginn der siebziger Jahre mit dem Grundrechtsschutz des Bürgers gegenüber Eingriffen aufgrund von Gemeinschaftsrecht bzw. -handeln. Unter Berufung auf allgemeine Rechtsgrund­sätze und gemeinsame Verfassungsüber­lieferungen der Mitgliedstaaten wurde sol­chermaßen zwar ein zufrieden stellendes Schutzniveau erreicht. Doch zum einen ist eine derartige Vorgehensweise natur­gemäß mit größeren Unwägbarkeiten behaftet als es bei dem Vorliegen eines schriftlich fixierten Grundrechtekatalogs der Fall wäre. Zum anderen handelte es sich zu Beginn dieser Rechtsprechung um eine recht überschaubare Mitgliederzahl (sechs, nämlich Frankreich, die Bundes­republik, Italien und die Beneluxstaaten) mit durchaus vergleichbar gelagerten Rechtstraditionen, wohingegen der Mit­gliederbestand auf gegenwärtig sieben­undzwanzig Staaten mit ganz unter­schiedlichem Hintergrund angeschwollen ist. Die Einführung eines Grundrechteka­talogs führt also zweifelsohne zu mehr Rechtssicherheit.

Welche Rechte mit Relevanz für behinderte Menschen sieht die Grundrechtecharta vor?
Der in der Charta enthaltene Katalog der Grundrechte umfasst allein 50 Artikel. Die vorliegende Darstellung muss sich daher auf solche Grundrechte beschrän­ken, die entweder spezifisch behinderte Menschen betreffen oder aber besondere Bedeutung auch für behinderte Menschen haben, etwa im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention .

1. Grundrechte, die spezifisch behin­derte Menschen betreffen
Unter diesen Regelungen ist zunächst Absatz 2, Buchstabe b des Artikels 3 zu
nennen, der die körperliche Unversehrt­heit regelt. In dieser Vorschrift werden eugenische Praktiken verboten, darunter solche mit dem Ziel der Selektion von Menschen.
Dies schließt beispielsweise einen Abtreibungszwang aus, falls sich bei einer pränatalen Untersuchung herausstellt, dass das zu gebärende Kind behindert sein wird. Gleiches gilt für Zwangssterili­sationen behinderter Menschen.
Artikel 21, Absatz 1 enthält ein Dis­kriminierungsverbot auch wegen Vorlie­gens einer Behinderung. Das mag selbst­verständlich klingen, doch sollte man nicht vergessen, dass ein entsprechendes grundgesetzliches Diskriminierungsver­bot im Artikel 3 Absatz 3, Satz 2 erst Ende 1994 angefügt wurde und vorher nur eine Berufung auf den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz möglich war.
In Artikel 26 mit dem Titel „Integration von Menschen mit Behinderung“ achtet und anerkennt die Union schließlich „den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruf­lichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft“. Inwieweit diesen Formulierungen lediglich program­matischer Charakter beizumessen ist oder aus ihnen für den Einzelnen konkrete Rechte ableitbar sind, bleibt abzuwarten und wird maßgeblich von der Rechtspre­chung europäischer Gerichte abhängen. In jedem Fall stellt es in bisher nie da gewesener Weise Handlungsgrundsätze heraus und setzt dem Handeln europä­ischer Organe Grenzen.

2. Grundrechte mit besonderer Bedeutung für Menschen mit Behinde­rung
Daneben gilt eine Reihe in der Charta aufgeführter Grundrechte zwar für alle, sie haben aber gerade für Menschen mit Behinderung besondere Bedeutung: die Notwendigkeit einer freiwilligen Einwilli­gung des Betroffenen in medizinische Ein­griffe nach vorheriger Aufklärung gemäß den gesetzlichen Vorschriften im Artikel 3, Absatz 2, Buchstabe a erfasst auch die in Artikel 15 der UN-Behindertenrechtskonvention geregelten Fälle medizinischer Versuche; der Schutz des Privat- und Familienlebens und derjenige personenbezogener Daten gemäß den Artikeln 7 und 8 deckt in etwa den Regelungsgehalt des die Achtung der Privatsphäre betreffenden Artikels 15 der UN-Konvention ab, und wenn Artikel 39 der Charta das aktive und passive Wahl­recht für alle Unionsbürger vorsieht, so ist dies auch in den Regelungen zur Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben in Artikel 29 der UN-Konvention  enthalten.
Diese Liste ließe sich noch weiter fort­setzen und belegt, in welchem Umfang sich die Rechtsstellung von Menschen mit Behinderung aufgrund der in der Grund­rechtecharta enthaltenen Grundrechte und Freiheiten verbessert. Für wen gilt die Charta?
Die in der Charta niedergelegten Grundrechte gelten zunächst für alle Organe und Einrichtungen der Europä­ischen Union, aber auch für die Mitglied­staaten, soweit sie europäisches Recht durchführen, Artikel 51. Damit ist das in der Charta vorgesehene Schutzniveau unabhängig davon gewährleistet, wer letztendlich das von europäischen Institu­tionen gesetzte Recht ausführt. Bewertung
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es selbstverständlich zu früh, um die Charta und die in ihr geregelten Rechte und Frei­heiten zu bewerten. Erst die Praxis und dabei insbesondere die Handhabung durch die Gerichte werden zeigen, inwie­weit es sich hierbei um ein effizientes Instrumentarium handelt.
Bereits jetzt geht aber von diesem Regelungswerk eine enorme Impuls­wirkung aus – für gegenwärtige Mit­gliedstaaten, ihre Grundrechtsstandards kritisch zu überprüfen, und für Beitritts­kandidaten, sich dem europäischen Stan­dard anzupassen.

Wolfgang Vogl