Nordschwabing am Petuelpark, Club- raum der Stiftung Pfennigparade. Auftritt: Mutter, Sohn und Vater Folger -
Irmgard kommt rasch in den Raum. Ihre lebhaften Augen lachen. Sie strahlt vor Energie und Freundlichkeit und wer sie sieht, mag sie sofort. Gerhard - ein großer Schritt nach vorn, dann das zweite Bein nachgezogen, dabei knickt die Hüfte ein wenig ein. So betritt der breitschultrige junge Mann mit der auffallenden Zweitakt- Gangart den Clubraum. Er grinst über das ganze Gesicht und hat einen flotten Spruch auf den Lippen. Zuletzt erscheint Willi. Freundlich, aber verhaltener als Frau und Sohn, grüßt er die Runde. Wie schön, die Folgers - heute ist wieder einmal die ganze Familie da! Wenn Gerhard alle Anwesenden mit einem Scherz oder der Frage nach ihrem Wohlergehen begrüßt hat - das dauert meist etwas länger, denn er zeigt ein starkes demokratisches Empfinden und lässt keinen aus - dann kann der Clubabend beginnen!
Zum Gespräch bei mir - ich brauche für dieses Porträt natürlich Informationen aus erster Hand - kommen sie freundlicherweise ebenfalls zu dritt.
"Wie habt Ihr Euch kennen gelernt, Du und Irmgard", frage ich Willi, "und was hat Dir an ihr am besten gefallen?" - Ihr Lachen! - Und was hat Dich an ihm angezogen, Irmgard? "Seine schwarzen Haare, auf die bin ich reingefallen", antwortet sie vergnügt. "Wie wir uns kennen gelernt haben? Ich hab Verkäuferin gelernt und da bin ich öfter zur Post geradelt, weil ich für meine Firma die Briefe aufgegeben hab und da hat er sich einmal einfach auf meinen Gepäckträger gsetzt!" - Ein Draufgänger also, dieser Willi! - "Na ja, sie hat sich's ja gefallen lassen", sagt er ruhig und lächelt. Die Freundschaft wurde enger, sie machten Radelausflüge - mit zwei Fahrrädern jetzt, nicht mehr auf dem Gepäckträger. Und ins Kino gingen sie, oft auch mit gemeinsamen Freunden. Willi hatte sehr früh als Postjungbote begonnen und dann eine Lehre bei der Post absolviert. Danach führte ihn sein Beruf durch den Landkreis - von Dillingen, seiner Heimatstadt aus, in die umliegenden Ortschaften. Mit 21 Jahren wurde er nach München versetzt. Er mietete ein möbliertes Zimmer. Irmgard kam ein Jahr später nach und fand ebenfalls eine Bleibe, aber am anderen Ende der Stadt. Damals war es gar nicht so einfach zusammenzukommen. Die Freundschaft aber hat gehalten, und irgendwann haben sie beschlossen zu heiraten. "Ja weißt Du, Ingrid, früher war des so, da hat man den Mann, mit dem man zum ersten Mal ins Bett gegangen ist, auch geheiratet." - Und beim Willi war das auch so? "Na", sagt Irmgard, "des glaub ich ned, der hat bestimmt mehrere Freundinnen g'habt, an den verschiedenen Orten, an denen er gewesen ist." Willi lächelt und schweigt. Es muss ja nicht jeder alles wissen.
Der Bräutigam ist 25, die Braut 23 - aber sie haben noch keine gemeinsame Wohnung. Die ergattern sie erst ein Jahr nach der Hochzeit. Drei Jahre später kommt das erste Kind, Brigitte. Irmgard hört auf zu arbeiten, um sich ausschließlich dem Familienzuwachs zu widmen. Sie bedauert die Frauen, die sich das nicht leisten können, weil sie arbeiten müssen, anstatt ihrem Liebling zuzuschauen, wie er lacht und weint und quiekst und Zähne bekommt, anfängt zu laufen, hinfällt und mühsam wieder aufsteht.
"Wir haben auf vieles verzichten müssen, damit ich daheim beim Kind hab bleiben können - auf den Urlaub, auf ein Auto und sogar auf ein Telefon!" Aber das heranwachsende Wunderwesen, das sich jeden Tag weiterentwickelte, war's eben wert. Irmgard strahlt vor Vergnügen.
Wiederum drei Jahre später kam Gerhard, der Stammhalter. Und auch dieses Kind erfüllte die Eltern mit Stolz, denn Gerhard war ein kluger, lustiger und ehrgeiziger Bub. Als er nach der Realschule nicht zufrieden war mit seiner Ausbildung, machte er das Fachabitur und begann zu studieren: Betriebswirtschaft. Er hatte rasch eine eigene Wohnung, ein Motorrad, ein Auto und eine Freundin.
"Das hat alles eine Menge Geld gekostet", sagt Gerhard "die Freundin auch!" Deshalb nahm der Student jede Arbeit an, die er kriegen konnte, ob als Taxifahrer, oder bei der Post. Er war so fleißig, dass seine Nebenjobs ihm sogar eine kleine Rente eingebracht haben, ein Zubrot, das er heute genießt. Als eifriger Student und beliebter Sonnyboy in einem großen Freundeskreis hatte er also die besten Aussichten auf einen interessanten Beruf, auf Wohlstand und Wohlleben - und er hatte große Pläne, ach, wie viele Pläne hatte er!
Dann kam der Bruch, der Sturz ins Bodenlose, der alles um und um kehrte.
Sein Studienkollege Thomas und er wollten über das Wochenende nach Paris fahren. Eine Spritztour - mit dem Auto von Thomas' Vater - wie viele abenteuerlustige Jugendliche sie machen: Es würde eine Mordsgaudi werden! Bei Straßburg hatten sie gerade die Grenzstation nach Frankreich passiert, da geriet Thomas von der Straße ab, das Auto überschlug sich mehrmals. Thomas kam mit dem Schrecken davon. Gerhard verlor das Bewusstsein, das erst sehr viel später wiederkehrte, und landete in einem Straßburger Krankenhaus. Noch während er im Koma lag, brachte ihn ein Hubschrauber, anders hätte man den Schwerverletzten nicht transportieren können, nach München zurück - in die Städtische Klinik in Bogenhausen.
Tag und Nacht sitzen die Eltern an seinem Bett mit bangen Fragen: Wird er wieder aufwachen und wenn, in wie weit ist das Gehirn geschädigt, wird er laufen können, wird er überleben, wie weiterleben? Dann kommt der Patient zu sich - 28 Tage hatte der Umnachtungszustand angehalten.
"Erkennst du mich, Gerhard?" Irmgard schaut auf das blasse Gesicht ihres Sohnes und versucht zu verstehen, in was für einem Zustand er sich befindet. " Erkennst Du mich? Was für eine Farbe hat das Kleid, das ich anhabe? Weißt Du, was das Wort "Genesung" bedeutet?" Gerhard erinnert sich, er erkennt Farben und weiß schwierige Wörter. Aber er ist gelähmt, hat einen Luftröhrenschnitt, er kann nur ganz leise und ganz langsam sprechen und artikuliert jedes Wort überdeutlich und hochdeutsch - zuvor hatte er in schönstem Bayrisch geredet. Er ist extrem abgemagert und auf den Rollstuhl angewiesen.
Und nun beginnt der mühselige Lauf durch die Hölle und den Himmel der Rehabilitation, immer begleitet von aufwühlenden Fragen: "Wie kann Gerhard gefördert werden, was hilft ihm, welche Station, welcher Arzt, Therapeut ist besser, hätte man mehr tun können und vielleicht früher, wer hat was versäumt, oder doch nicht?" Und über allem hängt die für Gerhard schrecklichste Frage: "Warum hat ausgerechnet mich dieses Schicksal getroffen, warum mich, diesen hoffnungsvollen jungen Mann mit den vielen Talenten und Plänen? Warum ich?"
Dann hat die Freundin sich verabschiedet - was sollte sie mit einem Mann, der nicht mehr der Alte zu sein schien. Hatte sie deswegen Gewissensbisse? Auch der große Freundeskreis verlor sich allmählich. Und selbst Thomas, der Studienkollege, der so ungleich mehr Glück gehabt hatte, blieb fern. Warum auch er? Warum hat nicht wenigstens er zu ihm gehalten? "Weißt Du, Ingrid", sagt Gerhard, "dieser Unfall, der hat das tolle Leben, das ich gehabt hab, einfach zerstört. Der hat mich wie ein Schlag auf den Kopf getroffen, nein, eigentlich war es ein Schlag ins Herz."
Brigitte, die größere Schwester, nimmt natürlich auch Anteil am Schicksal Gerhards, aber sie hat bereits eine eigene Familie, um die sie sich kümmern muss. Auch als sie schwanger wird, besucht sie den Bruder regelmäßig. "Gerhard", sagt sie eines Tages, "magst Du der Patenonkel meines Kindes sein?" Dieses Angebot trifft ihn wiederum unvermutet. Aber diesmal lässt ein Glücksgefühl das Herz höher schlagen und bewirkt, dass aus dem geschundenen Körper, an dem man rumoperiert, den man zurechtbiegt und aufpäppelt, aus diesem Objekt der Ärzte und Therapeuten, die es wohl alle gut meinen, und von denen ihm viele auch wirklich helfen, dass aus diesem fremdbestimmten Wesen wieder ein Mensch wird. Ein Mensch, dem man vertraut, dem man zutraut, dass er Patenonkel sein kann und ein guter noch dazu, der Richtige eben! Gerhard erlebt seine Wiedergeburt. Alles ist anders und neu. Aber er lebt. Er ist ein Mensch. Wieder wächst die Hoffnung. Weitergeht die Einübung in ein vollkommen verändertes, vollständig neues Dasein.
Etwa ein Jahr nach dem Unfall, 1985, liest Vater Willi einen Anschlag im Flur des Krankenhauses Bogenhausen: Da gibt es einen CBF, Club Behinderter und ihrer Freunde, der liefert Informationen, bietet Beratung und einmal in der Woche treffen sie sich zum allmontäglichen Clubabend. Da gehen sie hin, die Folgers. Zuerst der Vater mit dem Sohn. Es gefällt ihnen und alle drei werden Mitglied. Man lernt sich kennen, wird vertraut miteinander, gewinnt Freunde. Und da die Familie immer schon zu den rührigen Mitbürgern gehört hat, werden sie auch in diesem Kreis aktiv: Irmgard, die Praktische, hilft mit, wenn es Feste zu feiern gibt. Sie kann gut kochen, backen, organisieren und springt überall ein. Sie begleitet die, die nicht alleine zurecht kommen auf Ausflügen. Gerhard erfreut die Runde mit seiner laut-fröhlichen Anwesenheit. Er spielt hingebungsvoll Schafkopf beim wöchentlichen Stammtisch-Treff. Ohne ihn geht nichts. Willi plant viele Jahre lang zahlreiche Clubfahrten, an denen die CBF-Mitglieder begeistert teilnehmen. Er arbeitet dabei gelegentlich mit Xaver Freimuth zusammen, der ebenfalls zu den Hauptreiseveranstaltern des Clubs gehört. Und Willi wird Vorstandsmitglied. Ein besonderer Gewinn für den Club, weil seine bedachte Art gut tut im Kreis von uns anderen, manchmal hitzig diskutierenden Vorständen. Er ist kein Vielredner, aber was er sagt, das trifft den Kern.
Inzwischen hatte Gerhard immer mehr Fuß gefasst. Obwohl er anfangs als therapieunfähig abgestempelt worden war, machte er stetig Fortschritte, "eilte von Erfolg zu Erfolg", wie er selber sagt. Er lernte sprechen, laufen, und kann sich heute viel besser orientieren als früher. Gibt es aber auch Arbeitsmöglichkeiten für ihn, und welche? Wo soll er wohnen? Mit Tütenkleben ist er unterfordert. In einer Wohngruppe für Behinderte fühlt er sich nach kurzer Zeit unwohl. Jährliche Aufenthalte in Reha-Kliniken jedoch bringen ihn voran. Die Frage ist nur, wird die Krankenkasse diese Maßnahmen auch in Zukunft zahlen. Eine Frage, die sich heutzutage leider viele stellen müssen. Warum ist es nicht selbstverständlich, jemanden zu fördern, der eine so offenkundige Weiterentwicklung erlebt?
Schließlich verschafften die Eltern Gerhard eine eigene Wohnung. Jetzt konnte er seine Selbstständigkeit beweisen. Dann kam die Idee mit der Datenverarbeitung. Endlich das Richtige für ihn, endlich! Diese Arbeit, halbtags, in einer netten Kollegenrunde, die macht er nun seit etwa 5 Jahren. Er entwirft außerdem Tabellen, schreibt Essenspläne und führt die Geburtstagsliste in seiner Abteilung. Seitdem er auch Glückwunschkarten am Computer entwerfen darf, ist seine kreative Ader geweckt. "Das macht Spaß, das ist richtig gut!", sagt er. "Ja", nickt Mutter Irmgard zufrieden, "das stimmt, auch sein Gedächtnis ist viel besser als früher. Aber leider sitzt er zu viel bei uns daheim und bewohnt seine eigene Wohnung kaum", klagt sie, "der Gerhard wird jetzt schon ein richtig behäbiger älterer Herr", fügt sie mit einem Blick auf seine langsam ergrauenden Haare hinzu. Die machen sein jugendliches Gesicht jedoch kein bisschen älter. "Ich bin eben ein kommunikativer Mensch, das weißt Du doch, Ingrid" sagt Gerhard und grinst. Denn bei sich daheim fällt ihm, wenn er so lange allein ist, die Decke auf den Kopf und er macht sich auf den Weg, die fünf Minuten Fußmarsch zur Wohnung der Eltern. Es klingelt und schon sitzt er wieder bei Mama. Irmgard seufzt und lächelt ihren Gerhard liebevoll an. "Wer weiß, wie ich mich verhalten tät, wenn ich in seiner Lage wär", sagt sie. "Manchmal sag ich ihm: "Heut möchten wir bei Dir frühstücken". Dann richtet er alles her, wir bringen Semmeln mit und was wir sonst noch brauchen, und machen's uns bei ihm gemütlich. Aber normalerweise ist er halt lieber bei uns, wegen der Ansprache. Und auch üben tut er zu wenig. Ich trainier schon immer gemeinsam mit ihm: Linke Hand zur Faust ballen, wieder öffnen, anspannen, wieder loslassen, anspannen, loslassen. Aber sobald ich mich umdreh", sagt Irmgard, "hat er schon wieder aufgehört". Doch diese Trägheit gehört zum Krankheitsbild von Schädel-Hirn-Trauma- Patienten. "Er braucht halt immer einen Schubs!" - "Da siehst Du's, Ingrid, ich bin immer der Geschubste!", beklagt Gerhard sich scherzend und lacht über das ganze glänzende Gesicht.
Die Mutter ist bei den Folgers wohl eher für die Gefühle zuständig als der Vater. Wenn Gerhard seinen Kummer über das andere, das verlorene Leben bei ihr ablädt, tröstet sie ihn. Sagt ihm aber auch, dass ein fröhlicher Mensch von seiner Umgebung leichter akzeptiert wird als ein trauriger. "Und wie's da drin aussieht, geht niemand was an", fügt sie hinzu. Und Gerhard gewinnt sein liebenswürdig fröhliches Gemüt rasch wieder, denn er hat Irmgards heiteres Naturell geerbt.
Soweit also läuft alles zufriedenstellend bei den Folgers. Aber jetzt geht es verstärkt um die Zukunft. Was wäre künftig für Gerhard das Beste? Betreutes Wohnen vielleicht, oder doch eine Wohngruppe? Da muss die Suche intensiv weitergehen, damit Gerhard die für ihn ideale Lebensform findet. "Wir bleiben ja nicht ewig übrig", sagt Willi, "und dann muss es ihm gut gehen". Aber bislang kann ihn Willi, der inzwischen Rentner ist, glücklicherweise noch zu jeder Reha begleiten, und außerdem reisen die Folgers gern und viel. Der Vater immer zusammen mit dem Sohn. Denn die beiden lieben das Fliegen und das wonnige Hotelleben, trinken gerne einen guten Tropfen und schätzen einen deftigen Schweinsbraten. Mutter Irmgard hingegen bevorzugt Busreisen. "Da seh ich wenigsten was von der Landschaft", sagt die quirlige Frau. Außerdem ist sie oft zu Fuß unterwegs mit ihren Wanderfreunden. Und da ihre eigenen Kinder ja längst groß sind, leistet sie sich nun den Luxus aller Großmütter: Sie verwöhnt die Enkelkinder - nach Strich und Faden. "Oma, Du wolltest doch mit uns in die Stadt gehen!" "Ja, freilich", sagt die Oma überglücklich. Das Geld, das sie sich abgespart hat, - "Da sag ich mir halt, des kauf ich mir jetzt nicht, des brauch ich ned unbedingt!" - erlaubt sie sich nach Herzenslust an die Enkel zu verschwenden.
Willi hat inzwischen den Vorstandsposten beim CBF aufgegeben. Für uns ein Verlust - für ihn eine Notwendigkeit. Denn die Familie und die wachsende Enkelschar fordern auch ihn mehr als früher. Außerdem litt er in letzter Zeit selber unter massiven gesundheitlichen Problemen, die er jetzt glücklicherweise im Griff hat.
"Wenn Ihr Euer Leben betrachtet, so wie es jetzt ist, gefällt es Euch? Seid Ihr zufrieden?" - "Ja", sagt Irmgard zutiefst überzeugt, "wir sind zufrieden mit unserem Leben. - Ja wirklich, das kann man so sagen", fügt Willi bedächtig und ernst hinzu.
So möge es ihnen weiterhin gut gehen, den Folgers, und sie mögen dem Club noch lange erhalten bleiben!
"Freilich, Ingrid", sagt Gerhard, "des mach ma!"
Ingrid Leitner
CBF-Mitglieder - ihr Leben und ihr Clubleben - Die Folgers - ein starker Stamm
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