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In der Woche vor Ostern war sämtlichen Medien zu entnehmen, dass das Bundesverfassungsgericht auf Eilantrag von Linke, FDP und Grünen entschieden hat, dass voll betreute Menschen, d.h. Menschen mit Betreuung in allen Angelegenheiten, auf Antrag bereits bei der Europawahl im Mai zur Wahl gehen dürfen.  

Hat sich das Bundesverfassungsgericht nicht erst vor kurzem mit einer ähnlichen Thematik auseinandergesetzt? Richtig, im Januar hat es existierende Wahlrechtsausschlüsse für behinderte Menschen zur Bundestagswahl für verfassungswidrig erklärt. Nach Umsetzung dieses Beschlusses soll auch diese Gruppe das Wahlrecht erhalten.

Wer darf überhaupt wählen?

Ist ein Wahlrecht für alle nicht eigentlich selbstverständlich? Ein Blick ins Grundgesetz legt diesen Schluss nahe, spricht doch der insoweit einschlägige Art.38 Absatz 1 ausdrücklich von allgemeiner Wahl, die – nach der einschlägigen Kommentarliteratur – also grundsätzlich allen Staatsbürgern zustehen muss.  

Das war beileibe nicht immer so: Juden wurde erst im Laufe ihrer Emanzipation im 19. Jahrhundert nach und nach in den einzelnen Landesteilen Deutschlands auch das Wahlrecht zuerkannt. Die preußische Verfassung von 1850 schloss Empfänger öffentlicher Armenunterstützung vom Wahlrecht aus und teilte dieses ohnehin nur  männlichen Staatsangehörigen zu.  

Dies änderte sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts, als nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland das Frauenwahlrecht eingeführt wurde und nach dem Zweiten Weltkrieg in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 allgemeine Wahlen ausdrücklich vorgesehen wurden (Art.21 Absatz 3). Das deutsche Grundgesetz nahm dies in seinem Artikel 38 auf und heutzutage sind allgemeine Wahlen in  europäischen und internationalen Rechtsakten bereits ein selbstverständlicher Bestandteil: So sieht die Grundrechtscharta der Europäischen Union von 2010 im Artikel 39 Absatz 2 ebenso allgemeine Wahlen zum Europäischen Parlament vor wie Artikel 29 Buchstabe a der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)  von den Mitgliedstaaten ein aktives Wahlrecht behinderter Menschen fordert. In der Europäischen Union gibt es daher in vielen Staaten keine oder nur sehr eng begrenzte Wahlrechtsausschlüsse.

Nicht so in Deutschland: Nach der bis Anfang dieses Jahres geltenden Rechtslage regelte das Bundeswahlgesetz (BWahlG) die Einzelheiten der Wahl zum Bundestag und sah dabei in § 13 ausdrücklich Wahlrechtsausschlüsse vor. Diese galten u.a. für Personen, für die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist (§ 13 Nr.2 BWahlG) und für Straftäter, für die wegen Schuldunfähigkeit eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden ist (§ 13 Nr.3 BWahlG). Eine identische Regelung enthält § 6a Absatz 1 des Europawahlgesetzes (EuWG) für die Wahlen zum Europäischen Parlament und ähnliche Wahlgesetze galten auch in den meisten Ländern.

Wie viele Personen sind von diesen Wahlrechtsausschlüssen betroffen?

Von den eben geschilderten Wahlrechtsausschlüssen sind nach einer Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales aus dem Jahr 2016 etwa 85.000 Personen betroffen. Die Bundesrepublik hat noch in ihrem ersten Staatenbericht zur UN-BRK aus dem Jahr 2011 die bestehenden Wahlrechtsausschlüsse aus sachlichen Gründen und wegen ihrer engen Fassung gerechtfertigt (S. 68).

Wie waren die Reaktionen auf nationaler und internationaler Ebene?

Diese Einschätzung wurde anderswo aber keineswegs geteilt.  

Auf internationaler Ebene geriet die Bundesrepublik im Hinblick auf die in Art. 29 Buchstabe a UN-BRK übernommene Verpflichtung vielmehr erheblich unter Druck: So empfahl der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in seinen Abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht bereits 2015 die Aufhebung bestehender Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit Behinderungen (S.10). In ihrer Formulierung von Handlungsbedarfen zur Umsetzung der UN-BRK forderte dann die Monitoringstelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte die Bundesrepublik auf, im Rahmen der Erstellung des 2. Staatenprüfberichtes mitzuteilen, ob auf Bundes- und Landesebene bestehende Wahlrechtsauschlüsse für Menschen mit Behinderung mittlerweile aufgehoben wurden und wenn nicht, warum nicht (S.22).

Auf nationaler Ebene veröffentlichten rechtzeitig vor den letzten Bundestagswahlen 2017 sämtliche Landesbehindertenbeauftragte zusammen mit der Bundesbehindertenbeauftragten einen Appell an die Mitglieder des Bundestags, die Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit Behinderung abzuschaffen. Dies wurde vor den Wahlen nicht mehr realisiert, der Koalitionsvertrag von 2018 zwischen CDU/CSU und SPD sieht aber im Kapitel „Teilhabe von Menschen mit Behinderung“ ausdrücklich eine Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse für vollbetreute Menschen vor (S.95).

Wurden die Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit Behinderungen vom Gesetzgeber abgeschafft?

Die Rechtsprechung war jedoch schneller: Nachdem mehrere von den Wahlrechtsausschlüssen nach § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG Betroffene nach der Bundestagswahl 2013 Wahlprüfungsbeschwerde eingelegt hatten, musste sich das Bundesverfassungsgericht mit der Verfassungsmäßigkeit dieser Wahlrechtsausschlüsse befassen. Mit Beschluss vom 29. Januar 2019 erklärte es daraufhin die obigen beiden Regelungen für verfassungswidrig, da einerseits gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nach Art.38 Absatz 1 Satz 1 GG verstoßen wird und sie andererseits mit dem Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung nach Art.3 Absatz 3 Satz 2 GG unvereinbar sind.

Warum war nach dem eindeutigen Beschluss der Verfassungswidrigkeit noch ein Eilantrag erforderlich?

Angesichts der eindeutigen Positionierung des Bundesverfassungsgerichts hätte manch einer erwartet, dass der Gesetzgeber unverzüglich eine grundgesetzkonforme Änderung der betreffenden Wahlgesetze auf den Weg bringen würde, damit die nächsten anstehenden Wahlen ohne Verletzung des Grundgesetzes durchgeführt werden können. Tatsächlich sieht ein Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD vom 09.04.2019 eine Streichung der Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit Behinderung in § 13 BWahlG und in der identischen Regelung des § 6a Absatz 1 EuWG vor. Doch sollte diese Streichung erst am 01. Juli 2019 in Kraft treten, also nach der anstehenden Europawahl Ende Mai. Dem waren Anträge von Linke, FDP und Grüne auf eine sofortige Aufhebung der in Rede stehenden Wahlrechtsausschlüsse vorausgegangen, die aber vom Bundestag mehrheitlich abgelehnt worden.

Es ist vor diesem Hintergrund daher wenig überraschend, dass Abgeordnete dieser Fraktionen sodann gerichtliche Hilfe suchten und per Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht eine Außervollzugsetzung der Wahlrechtsausschlüsse per einstweiliger Anordnung beantragten. Dem entsprach das Bundesverfassungsgericht und bestimmte, dass die Wahlrechtsausschlüsse für vollbetreute Personen oder wegen Schuldunfähigkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Straftäter bereits bei der Europawahl im Mai nicht mehr anzuwenden sind. Allerdings setzt eine Beteiligung an den Wahlen voraus, dass bis 5. Mai eine Eintragung in das Wählerverzeichnis beantragt oder zwischen 6. und 10. Mai gegen die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Wählerverzeichnisse Einspruch oder Beschwerde eingelegt wird. Mit dieser „Antragslösung“ wollte das Gericht angesichts des geringen zeitlichen Vorlaufs bis zu Beginn der Europawahlen organisatorische Schwierigkeiten der Wahlbehörden minimieren, da sich bei einer solchen Lösung erfahrungsgemäß die Anzahl der Fälle stark reduzieren dürfte.  

Wir raten daher allen Lesern, die bisher von einem der beiden Wahlrechtsausschlüsse betroffen waren, unverzüglich, spätestens aber bis 5. Mai (Eingang bei der Behörde!) einen Antrag bei der zuständigen Wahlbehörde auf Eintragung ins Wählerverzeichnis zu stellen. Da der 5. Mai dieses Jahr auf einen Sonntag fällt, ist der darauffolgende Montag, 6. Mai, noch fristwahrend.

Wolfgang Vogl