Nach kontroversen Diskussionen, Protesten von Wohlfahrtsverbänden und Behinderten sowie mehrfachen Korrekturen hat nun der Bundestag das Bundesteilhabegesetz (BTHG) erlassen. In einer unserer nächsten Ausgaben werden wir dieses Gesetz ausführlich vorstellen. Bereits heute können Sie aber einen unmittelbar nach Erlass des Gesetzes verfassten Kommentar von Holger Kiesel lesen, den Sie vielleicht durch seine Auftritte als Robert Rollinger bei unseren Herbst- und Sommerfesten kennen. Der Kommentar wurde am 4. Dezember 2016 im BR ausgestrahlt.
 
Nun hat also der massive Protest von Betroffenen und Behindertenverbänden gerade noch das Schlimmste verhindert: Einige Befürchtungen, die es nach dem ersten Entwurf gab, dürften sich nun wohl Gott sei Dank nicht bewahrheiten: Menschen mit Behinderung dürfen in ihren eigenen Wohnungen bleiben, auch wenn das womöglich nicht die billigste Lösung ist. Zunächst stand das Schreckensszenario im Raum, viele müssten aus Kostengründen in Zukunft wieder in Heime umziehen.
Auch hatten viele befürchtet, sie könnten zukünftig weniger Leistungen bekommen, da die Kriterien verschärft werden sollten, ob man Anspruch auf Eingliederungshilfe hat oder nicht. Der Wegfall dieser staatlichen finanziellen Unterstützung hätte für viele Menschen mit Behinderung aber bedeutet, dass sie beispielsweise ihren Werkstattplatz verloren hätten, weil er für die Einrichtungen ohne diesen Zuschuss unrentabel geworden wäre. Nun bleibt bei der Eingliederungshilfe vorerst alles so, wie es ist – 2023 soll dann eine Neuregelung kommen.
Ein paar besonders herbe Rückschritte im Bereich der Teilhabe für Menschen mit Behinderung konnten also durch die Proteste erstmal abgewendet werden.
Grundsätzlich aber bringt das Bundesteilhabegesetz durchaus auch einige echte Fortschritte: Menschen, die persönliche Assistenz  brauchen – also Hilfe beispielsweise beim Essen, Einkaufen oder Anziehen -  müssen in Zukunft nicht mehr fast ihr gesamtes Vermögen dafür hergeben. Endlich dürfen sie mehr Geld selbst behalten, können endlich erben oder sparen, ohne dass ihnen fast alles wieder weggenommen wird! Ein längst überfälliger Schritt!
Aber: War beim Thema Bundesteilhabegesetz nicht immer vollmundig von einem Paradigmenwechsel die Rede gewesen? Hätte es nicht der ganz große Sprung werden sollen - weg von der Fürsorge, hin zu echter Teilhabe und Selbstbestimmung? Von diesem hehren Anspruch ist das neue Gesetz definitiv weit entfernt! Das Problem ist vor allem, dass ein solcher Paradigmenwechsel eben nicht für kleines Geld zu haben ist! Will man die UN-Behindertenrechtskonvention wirklich konsequent in allen Punkten umsetzen – was ja angeblich das Ziel des Bundesteilhabegesetzes ist - bedarf es deutlich größerer Investitionen vor allem in einen inklusiven Arbeitsmarkt, ins Bildungssystem und für Freizeitangebote. Dieser Bundesregierung scheint es aber vor allem darum zu gehen, sagen zu können: "Wir haben es geschafft, ein Bundesteilhabegesetz auf den Weg zu bringen! Und die schwarze Null im Haushalt steht trotzdem!". Wer das zum Maßstab nimmt, kann das neue Gesetz vielleicht als großen Wurf betrachten.
Die meisten Menschen mit Behinderung in Deutschland aber werden wohl nach wie vor sagen: "Das ist nicht mein Gesetz!".

Holger Kiesel